In einem großen, finsteren Wald
Es war einmal ein großer, finsterer Wald, in dessen Mitte sich eine kleine Lichtung befand. Zwischen grünen Gräsern wuchsen in unregelmäßigen Abständen Blumen mit weißen Blüten, aus denen man ein leises, vielstimmiges Schnarchen hätte hören können, wenn man aufmerksam gelauscht hätte. Mit dem Sonnenuntergang begann die Nacht, die sich wie eine riesige schwarze Decke über den Himmel legte. Nach und nach tauchten die ersten Sterne auf, die wie kleine Nadelstiche in einem Zirkuszelt wirkten. Noch ehe der erste Lichtstrahl des Vollmonds auf diesen magischen Ort traf, öffneten sich die Blüten, was nur ein einziges Mal im Jahr geschah. Die Schläfer, die sich über den Tag in ihnen versteckt gehalten hatten, erwachten.
Wie auf ein geheimes Kommando schwebten kleine Wesen, die von innen heraus glommen, aus ihnen empor. Wenige Zentimeter über dem Boden gähnten, reckten und streckten sie sich. Auch der Schlaf musste noch aus den Augen gerieben werden. Lediglich in einer einzigen Blüte schnarchte jemand munter weiter.
Die kleinen Geister, denn um solche handelte es sich bei diesen Wesen, blickten sich um, zählten durch. Wer fehlte denn noch? Der Oberste von ihnen schwebte durch die Reihen und hielt vor einer ganz bestimmten Blume. »Es konnte nur diese eine sein.«, murmelte er wissend. »Roselotte Brombeergeist, möchtest du nicht endlich erwachen und dich zu uns gesellen? Die Zeit ist reif. Wir dürfen diesen ganz besonderen Moment nicht versäumen.«
Das Geistermädchen wurde unter lautem Gähnen wach. Müde zog es sich an den Blütenblättern empor. »Es ist noch viel zu früh.« , beschwerte sie sich. »Der Vollmond ist noch gar nicht aufgegangen.«
Der Oberste lächelte. »Wenn wir bis zum Vollmond warten, ist es zu spät, denn dann werden die neuen Geister nicht gebührend empfangen werden können und vergehen sofort im Wind der Einsamkeit. Wir müssen ihnen den Weg bereiten.«
Roselotte Brombeergeist schloss die Augen und klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn. Die Geburt der neuen Geister hatte sie völlig vergessen.
Sie richtete die rosa Schleife, die sie am Kopf trug, überwand mühsam ihre Blüte und kletterte am Blumenstiel zum Erdboden hinab. Im Gegensatz konnte sie weder durch Wände gehen, noch durch die Lüfte schweben, da sie es vor einem Jahr an genau diesem besonderen Tag etwas zu eilig gehabt hatte und ein paar Minuten zu früh geboren wurde.
Der Oberste zeigte zum Waldrand. »Seht! Der Mond geht gerade auf. Es kann nun nicht mehr lange dauern, bis er sein Licht auf die frisch gewachsenen Blumen werfen wird.«
Schon ein paar Minuten später fiel tatsächlich ein erster Lichtstrahl über die Baumwipfel hinweg und strich sanft und langsam über die Blumen hinweg.
Die Blüten knackten zum ersten Mal auf und öffneten sich wie in Zeitlupe. Es wurde laut gegähnt. Kleine Ärmchen streckten sich zum Himmel hinauf, bevor die jungen Geister zum ersten Mal aus ihrem Inneren zu leuchten begannen und empor schwebten.
»He, was soll denn das?« In einer der Blüten raschelte es ungewöhnlich laut. Ein Geistermädchen stand auf und sah ganz verzweifelt an sich herab. »Wo ist denn mein Licht? Es springt nicht an. Wo ist denn der Schalter? Kann mir das jemand verraten?«
Roselotte Brombeergeist ahnte schon, dass auch in diesem Jahr etwas falsch gelaufen war und eilte auf den schweren Stiefeln, die sie an ihren Füßen trug, zur Blume des neuen Geistes und kletterte hinauf.
»Hallo, ich bin Lotti und wer bist du?«
Ich … ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe keinen Namen. Und wenn ich mich selbst so anschaue, dann weiß ich auch nicht, welcher zu mir passen würde.«
Das junge Geistermädchen begann zu weinen. Lotti nahm sie sofort in die Arme, um die zu halten, um ihr etwas Wärme zu geben.
»Mir ist letztes Jahr bei meiner Geburt etwas Ähnliches passiert. Aber ich verspreche dir, wir werden dein Licht schon bald finden und entzünden. Danach bekommst du auch noch einen ganz besonderen Namen.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ganz sicher.«
(c) 2025, Marco Wittler
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