025. Ein Tag im Leben

Ein Tag im Leben

Das aufregendste im Leben ist das Leben selber, es sei denn es ist von Anfang bis Ende völlig öde und langweilig. Aber wenden wir uns doch lieber ersterem zu, denn wer hat schon Interesse eine völlig langweilige Geschichte zu lesen.
Es begann alles mit einem Gedanken: „Karl-Heinz“.
Karl-Heinz war sein Name und in dem Moment seiner Geburt wurde ihm dieser sofort bewusst.
Nun mag man vielleicht, und das auch zu Recht, einwerfen, dass sich niemand, oder zumindest die wenigsten Menschen an den Moment ihrer Geburt erinnern können. An die Geburten anderer schon, zum Beispiel, wenn man als Vater im Kreißsaal unter der seelischen Belastung zusammenbricht und sich bei dem Sturz zu Boden den Kopf an einem Tisch verletzt und dabei eine bleibende Narbe an der Stirn zurück bleibt. Oder auch als Mutter, die unter unvorstellbaren Schmerzen das Kind gebiert und dabei zusehen muss, wie ihr verweichlichter Ehegatte zusammen sackt und sich den Kopf dabei anschlägt, nur um nachher genug Bedauern abstauben zu können für eine kleine lächerliche Narbe, die aus einer normalen Platzwunde heraus entstanden ist.
Aber bei Karl-Heinz war das etwas anderes. Aber dazu sollte auch erwähnt sein, dass er kein Mensch in diesem Sinne war. Auch im anderen Sinne nicht. Bisher war er nichts, beziehungsweise fast nichts. Er war noch im Begriff zu entstehen. Aber derzeit war er noch Teil einer großen, roten, warmen Breimasse in einem großen Behälter.
Dort war er nicht allein, denn er war vereint mit Hunderten anderen seiner Art. Sie waren alle beieinander und fühlten sich wohl, denn sie kannten es ja auch nicht anders. Seit ihrer Geburt, die allerdings zu diesem Zeitpunkt gerade erst einmal ein paar Minuten zurücklag, waren sie eine große Gemeinschaft, fast wie eine richtige Familie.
Doch dann wurde es in dem Brei, ihrer kollektiven Ursuppe sehr ungemütlich. Das kam ihnen ziemlich ungelegen, denn sie hatten es sich gerade miteinander sehr gemütlich gemacht und sich vorgenommen, an diesem Zustand vorerst nichts zu verändern. Dementsprechend waren sie natürlich alle ziemlich sauer, denn inmitten unter ihnen begann sich ein Metallteil zu drehen, erst langsam, dann immer schneller. Es wurde richtig ungemütlich. Sie wurden vermatscht und durchgerührt. Wenn Karl-Heinz ein Ohr mit einem eingebauten Gleichgewichtssinn besessen hätte, dann hätte er sich schlagartig übergeben müssen. Aber da er nicht einmal einen Kopf besaß, wusste er nicht, wo er ein Ohr anbringen sollte und verwarf diesen Gedanken schnell wieder.
Kurz darauf passierte etwas anderes. Die warme rote Masse wurde durch eine kleine Öffnung im Boden des Behälters abgelassen. Und nicht nur das. Der eben noch völlig fest stehende Deckel drückte nun in seiner Abwärtsbewegung auf die Gemeinschaft und half dadurch alle nach draußen zu befördern.
Karl-Heinz bekam Panik und wollte sich irgendwo festhalten, zuerst an der Wand und anschließend am Rührteil in der Mitte. Nach mehreren verzweifelten Versuchen musste er aber feststellen, dass er weder über Arme oder Beine verfügte, an denen Hände und Füße hingen, mit denen er solches hätte bewerkstelligen können. Zudem war der Verrührer bereits durch eine weitere Öffnung im Boden verschwunden. Ihn hatte es also als ersten erwischt.
Unserem zweifelhaften Helden blieb nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu ergeben und laut zu schreien. Ach ja, da war noch die Sache mit dem nicht vorhandenen Mund. Die große rote Gemeinschaft verschwand unter lautestem Schweigen durch das Loch in eine ungewisse Zukunft.
Sollte dies nun schon das Ende gewesen sein? Schließlich waren sie doch alle gerade erst geboren worden, nur ein paar Minuten alt. Sie hatten doch noch ein ganzes Leben vor sich gehabt.
Schlagartig erschrak Karl-Heinz. Ihm wurde der Begriff der Eintagsfliege mehr als bewusst, dem kleinen zierlichen Geschöpf, welches nach nur vierundzwanzig Stunden ihr Leben aushauchte. Woher er dies alles wusste, konnte er sich selber nicht erklären, ohne jemals Biologie studiert, geschweige denn jemals eine Schule besucht zu haben. In einem so kurzen Zeitraum war das auch gar nicht denkbar. Jedenfalls drängte sich ihm der Gedanke einer Fünf-Minuten-Suppe auf, die nach Ablauf ihrer Lebenszeit in einem Loch im Boden verschwand und dabei direkt verstarb. Aber zu seinem Glück kam es dann doch ganz anders, denn in wenigen Augenblicken sollte Karl-Heinz zum zweiten Mal geboren werden.
Doch zuvor musste er noch eine wilde Fahrt durch ein schier endloses Labyrinth aus Schläuchen und Rohren überstehen , durch die er gesaugt wurde. Er kam sich vor wie ein Schluck köstlichen Getränks auf dem Weg vom Glas durch einen Strohhalm in den Mund und von dort direkt weiter durch die Speiseröhre in den Magen. Schon wieder ein Gedanke, der einfach in ihm entstand, ohne jemals Ähnliches vorher erlebt, gehört oder gesehen zu haben. Und doch war er da. Langsam begann er zu überlegen, ob er vielleicht eine Art Gott war unter den vielen normal denkenden Wesen, die mit ihm unterwegs waren, denn nur ein Gott konnte all diese Dinge kennen, die Seinesgleichen normalerweise völlig fremd sein sollten.
Schon stellte er sich vor, dass bald etwas besonderes mit ihm geschehen würde. Also begann er, sich einige philosophische Gedanken zu machen, um später auf seine göttlichen Aufgaben vorbereitet zu sein.
„Ich denke, also bin ich“, fuhr es ihm durch den Kopf. Wenn schon ein Gott, dachte er, dann würde er sich bei der nächsten passenden Gelegenheit einen Kopf wachsen lassen.
Weiter kam er allerdings nicht mit seinen Überlegungen, denn just in diesem Moment wurde er von seinen Artgenossen getrennt. Jeder von ihnen floss nun eine eigene Röhre entlang, jeder einsam und für sich alleine. Die fahrt endete in einem kleinen dunklen Raum, in dem Karl-Heinz gerade eben Platz fand. Dazu musste er sich allerdings komplett um einen runden ‚Kolben legen, der sich im Innern befand. Zusätzlich wurde noch vom Eingang auf Karl-Heinz Druck ausgeübt und anschließend die Öffnung verschlossen.
Plötzlich überkam ihn das Gefühl einer heran schleichenden Gänsehaut, als würden sich schlagartig alle nicht vorhandenen Härchen auf einer imaginären Haut aufrichten. Er stellte sich vor, dass dies durchaus in manchen Fällen ein aufregend kribbelndes Gefühl sein könnte, bis hin zum leichten Frösteln. Aber er spürte nichts dergleichen. Nun war ihm wenigstens bewusst, dass es immer kälter wurde. Von Geburt an war er eigentlich nur an Wärme gewöhnt und kam sich vor wie ein Bewohner Afrikas zu Besuch bei Freunden am Nordpol.
Diese Kälte schien auch Wirkung auf Karl-Heinz’ Äußeres zu haben, denn während er in den letzten Minuten noch immerwährend um den Kolben gewabert und zirkuliert war, fiel es ihm nun von Augenblick zu Augenblick schwerer. Er versuchte sich schneller zu bewegen, um wieder wärmer zu werden, denn trotz fehlendem Doktortitel in Physik wusste er, dass die Reibung seiner Bewegung Wärmer erzeugte. Doch in seiner momentanen Zähigkeit war er viel zu langsam und kam schließlich ganz zum Stillstand. Er erstarrte wie eine Flasche Wasser, die im Eiskühlfach vergessen worden war. Sein ursuppiger, amöbenhafter Körper, der alles hätte werden können, hatte nun eine unveränderliche Form bekommen, eine die jemand anderes für ihn bestimmt hatte.
Karl-Heinz wurde klar, dass er doch nicht der Bestimmung Folgen konnte, ein Gott zu sein. Dazu fehlte ihm auch, wie er nun einsah der richtige Name. Durch ein Wissen unbekannter Herkunft stellte er fest, dass alle großen Götter große Namen in griechischer, römischer oder gotischer Sprache trugen, wie Zeus, Jupiter, Thor, die drei Götterväter oder Rehakles, der Gott es runden Leders.
Also verwarf Karl-Heinz seine Zukunftsträume und Wünsche und harrte der Dinge, die da kommen würden. Und der Moment der Erkenntnis, der Augenblick seiner zweiten Geburt war plötzlich da. Der Raum, den er vollständig ausfüllte öffnete sich nun und ließ zum ersten Mal richtiges Sonnenlicht im Übermaß herein. Karl-Heinz rutschte vom Kolben, der sich in seinem Inneren befand ab und stürzte in die Tiefe.
Während er fiel, dachte er darüber nach, dass er nun etwas ganz anderes war. Sein Körper war nun eine feste, aber dennoch weiche Substanz. Er hatte das Gefühl nur aus Haut zu bestehen.
Sein nächster Gedanke bestand darin, dass er überhaupt keine Angst vor dem Sturz hatte und eben so wenig vor dem unvermeidlichen Aufprall auf dem immer näher kommenden Boden. Er verschwendete nicht ein bisschen Panik daran, sich in den nächsten Sekunden verletzen zu können und eventuell sein recht kurzes Leben schon beenden zu müssen.
Es war genau das Gegenteil der Fall. Er sah dem Ganzen mit einer Gelassenheit entgegen, die ein Dreifingerfaultier an den Tag legt, wenn es auf einen Baum klettert, was im Ernstfall mehrere Stunden in Anspruch nehmen kann.
Dieser wirklich einmalige Fall von absolutem Angst-Desinteresse versetzte ihn daraufhin derart in Panik, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Denn seiner Ansicht nach sollte er zumindest den Grad des Entsetzens erreicht haben, den ein durchschnittliches Kind verspürt, wenn beim Besuch der Bäckerei festgestellt werden muss, dass die kleinen leckeren Lutscher seit zwei Minuten ausgegangen sind und es keinen mehr bekommen wird.
Da dieser paniklose Zustand Karl-Heinz so völlig ruhig blieben ließ, packte ihn genau deswegen das kalte Grausen. Doch bevor er sich nun in dieses Gefühl so richtig hinein steigern konnte, wie ein Baby in seine Schreikrämpfe, wenn es nicht sofort zum Stillen an die Brust der Mutter kommt, gab es ein nicht all zu lautes, klatschendes Geräusch und Karl-Heinz war in einer kleinen Plastiktüte gelandet, zusammen mit neunzehn weiteren Artgenossen.
Als er sich umsah, entdeckte er den großen Schriftzug, der auch von der Innenseite lesbar war.
Aus unerklärlichen Gründen, die er sich, wie viele andere vorher schon nicht nachvollziehen konnte, konnte er sogar die Buchstaben in gespiegelter Weise lesen:

Der Partyspaß für Klein und Groß

Mit Luftballons ist immer was los!

(c) 2005, Marco Wittler

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