034. Die Geschichte vom Ameisenbär, der keine Ameisen fressen konnte

Die Geschichte vom Ameisenbär, der keine Ameisen fressen konnte

Ach, Herr Doktor. Ich weiss mir keinen Rat mehr. Ich bin richtig verzweifelt.“
Mama Ameisenbär machte sich große Sorgen. Ihr kleiner Sohn Ulli konnte meine Ameisen fressen.
Was sollen wir denn jetzt machen, Herr Doktor? Ameisen sind doch unsere wichtigste Nahrung?“
Der Doktor, eine große Giraffe, kam mit ihrem Kopf herab und sah sich den kleinen Patienten genau an.
Hm. Das klingt ja nach einem schwerwiegendem Problem. Was machen wir denn da?“
Die Giraffe schwang den Kopf wieder hoch und überlegte eine Weile. Allerdings fiel ihr keine Lösung ein.
Wir werden den kleinen wohl zur Beobachtung hier behalten müssen. Wir haben in unserer Klinik ein gemütliches Bett. Dort kann er bleiben, bis wir wissen, was mit ihm nicht stimmt.“
Der kleine Ulli sah sich ängstlich. Er wollte auf keinen Fall im Krankenhaus bleiben. Er hatte schon viele schlimme Sachen darüber von den anderen Kindern gehört. Nein, Krankenhaus kam für ihn nicht in Frage.
Wieder kam der Giraffenkopf nach unten. „Du hast doch wohl keine Angst vor unserer Klinik, oder? Ich verspreche dir, es wird bestimmt eine tolle Zeit. Hier sind noch andere Kinder, die krank sind. Mit denen kannst du den ganzen Tag spielen und erzählen.“
Ganz ließ sich die Angst natürlich nicht vertreiben, aber nun ging es dem kleinen Ameisenbär schon etwas besser.
Er lies sich noch einmal von seiner Mutter kräftig an die Brust drücken, damit der Abschied nicht so schwer fiel. Dann ging er mit dem Doktor in einen anderen Raum.
Hier ist für die nächsten Tage dein Zimmer. Hier beobachten wir dich ein wenig und werden dich untersuchen. Abends kannst du dann auch hier im Bett schlafen. Am Ende des Ganges ist ein ganz großer Raum. Dort findest du tagsüber die anderen Kinder und jede Menge lustiger Spielzeuge.“
Ulli sah sich mit um und war richtig erstaunt, was es hier alles gab. Wenn die Augen der Ameisenbären nicht so winzig wären, wären seine jetzt riesengroß geworden.
Bevor du heute abend ins Bett gehst, bekommst du noch eine Schale Ameisen zum Abendessen. Und dann wollen wir einmal sehen, warum du sie nicht essen kannst.
Die Stunden im Krankenhaus vergingen sehr schnell. Es waren tatsächlich viele Kinder hier. Tommy, der Löwe, hatte sich beim Sprung vom Löwenfelsen ein Bein gebrochen. Mascha, das Elefantenmädchen hatte sich beim Spielen einen Knoten in den Rüssel gemacht und bekam diesen nicht mehr auf. Jeden Tag wurde ihr Rüssel massiert und der Knoten ein Stückchen weiter gelockert.
Doch dann kam der Abend und eine Krankenschwester brachte die Ameisen in Ullis Zimmer. Ulli wartete schon darauf.
Zur gleichen Zeit saß Doktor Giraffe in seinem Büro und sah auf seinen Terminkalender herab. Das war nicht ganz einfach bei seinem langen Hals. Er musste den Kopf dazu immer weit herunter halten, da seine Augen nicht mehr die besten wahren.
Oh, der kleine Ulli muss noch untersucht werden. Das Abendessen sollte doch schon serviert worden sein. Dann muss ich mich aber schnell auf den Weg machen.“
Als er ein paar Minuten später in das Zimmer des Ameisenbären kam, sah er, wie Ulli kräftig hustete und dabei ein paar kleine Ameisen aus seinem langen Rüssel flogen.
Oh, oh. Das sieht ja gar nicht gut aus. Du musst wohl eine Allergie gegen Ameisen haben. Oder dein Rüssel ist zu lang und die kleinen Tierchen haben noch Zeit, ihre Ameisensäure darin zu versprühen.“
Ulli sah den Arzt nur an und verstand gar nichts.
Da setzte sich Doktor Giraffe auf den Boden und sah dem kleinen Ameisenbär in die Augen.
Weißt du, ich habe auch so ein Problem. Mein Hals ist viel zu lang. Und ich esse so gerne Disteln, wie andere Tiere auch. Wenn mal eine Schildkröte Disteln frisst, dann landen die sofort in ihrem Magen. Aber bei mir müssen die Blätter erstmal durch meinen langen Hals. Und weil die Blätter so fiese Dornen haben, tut mir nach dem Fressen immer alles weh. Aber sie schmecken halt einfach so gut. Vielleicht ist es bei dir ja so ähnlich. Wir werden das einfach mal im Auge behalten.“
Die Giraffe verlies das Zimmer und lies Ulli schlafen.
Am nächsten Morgen kam die Schwester herein, machte die Vorhänge auf und stellte dem Ameisenbären sein Frühstück auf den Tisch.
Ulli war noch ganz verschlafen. Er war gewohnt immer lange schlafen zu können. Aber im Krankenhaus dachte man da nicht dran.
Langsam, wie ein verschlafenes Faultier, kroch er aus dem Bett und setzte sich an den Tisch. Vor ihm stand eine Schale mit frischen Ameisen.
Doktor Giraffe hatte diesmal nicht wieder vergessen, nach seinem Patienten zu schauen. Doch statt zu ihm in das Zimmer zu kommen, hatte er sich im Garten hinter einem großen Affenbrotbaum versteckt. Für eine Giraffe war es gar nicht so einfach, Verstecken zu spielen. Aber dieser Baum war einfach riesig.
Und nun sah er heimlich in das Zimmer von Ulli und beobachtete, was der kleine Junge mit seinem Frühstück machte.
Der kleine Ameisenbär bemerkte gar nicht, dass er beobachtet wurde. Und so tat er, was er mit jeder Mahlzeit anstellte. Er öffnete das Fenster und schenkte den Ameisen die Freiheit.
So eine Gemeinheit. Ihr seid doch auch Tiere, so wie ich eines bin. Ich kann euch doch nicht auffressen. Lauft schnell weg und versteckt euch. Es soll euch ja nicht jemand anderes auffressen.“
Dann ging er zum Bett, hob die Matratze hoch und holte eine Banane darunter hervor.
Mhh, ist die lecker.“
Doktor Giraffe war erstaunt über seinen kleinen Patienten, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Gemütlich schlenderte er in sein Büro zurück und rief Mama Ameisenbär an, damit sie zum Krankenhaus kam.
Am Nachmittag saßen die Giraffe und die Ameisenbären wieder im Behandlungszimmer des Krankenhauses.
Nun, Frau Ameisenbär. Ich habe mir sehr lange den Kopf zerbrochen, was mit ihrem kleinen Ulli nicht stimmen kann. Und es war gar nicht so einfach das Problem zu lösen. Aber ich habe den kleinen Bengel heute morgen beim Frühstücken beobachtet und schon war mir alles klar.“
Als Ulli das hörte, bekam er ein ganz schlechtes Gewissen. Er sah zum Boden, damit niemand sehen konnte, wie sein Gesicht rot anlief.
Zuerst dachte ich, dass sein Rüssel zu lang sei. Aber das war es nicht. Vielmehr leidet der Junge an einer Ameisenallergie. Das ist sehr sehr selten, kommt aber immer wieder vor bei Ameisenbären. Und ich muss Ulli leider verbieten, jemals wieder in seinem Leben Ameisen zu fressen. Davon wird er nämlich nur krank. Er wird wohl nur noch Obst zu sich nehmen können.“
Ulli wäre am Liebsten vor Freude in die Luft gesprungen. Doktor Giraffe hatte ihn nicht verraten. Er hatte ihm sogar geholfen, nie wieder die Armen Ameisen fressen zu müssen. Obst schmeckte ja auch wesentlich besser, als die kleinen Krabbeltiere.
Mama Ameisenbär war gar nicht begeistert von der Allergie.
Aber Herr Doktor. Ich kann dem Jungen doch kein Obst geben. Was sollen denn die anderen Ameisenbären von uns denken.“
Der Doktor lachte.
Darüber müssen sie sich keine Sorgen machen. Ich werde eine unserer Schwestern beauftragen, für Ulli das Obst zu kaufen. Sie wird es dann heimlich zu ihnen bringen. Das sieht keiner, und niemand wird jemals etwas davon mitbekommen.“
Langsam schob er die beiden aus seinem Behandlungszimmer und wünschte ihnen alles Gute. Zum Schluß kniff er Ulli noch ein Auge zu und grinste.

(c) 2006, Marco Wittler

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