062. Drachen

Drachen

Vor langer Zeit gab es ein kleines Dorf in einem kleinen, unentdeckten Tal. Es war umgeben von vielen Bergen, die so hoch waren, dass kein Wanderer sie zu überqueren vermochte.
Das Leben im Dorf war nicht sehr luxuriös, aber die Menschen fühlten sich wohl.
Doch eines Tages wurden diese kleine paradiesische Welt von einem schrecklichen Ereignis erschüttert.
Es war ein an einem Sommerabend, wie es viele in den Bergen gab. Die Sonne verschwand langsam hinter einer Bergkette und färbte den Himmel rot.
Doch statt des glitzernden Sternenmeeres tauchte ein Schatten am Himmel auf, welcher stundenlang seine Kreise über das Dorf zog.
Nur wenige Menschen hatten es gesehen, konnten sich allerdings nicht vorstellen, was dort über ihren Köpfen vor sich ging. Bis tief in der Nacht ein Haus lichterloh brannte.
Die Bewohner des Dorfes wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Sie wurden aus dem Schlaf gerissen, die Feuerwehr musste ausrücken, um das Feuer zu löschen, doch blieb nicht mehr viel übrig, was man retten konnte.
In der zweiten Nacht geschah es wieder. Ein dunkler Schatten kreiste durch den Himmel, bis spät in der Nacht ein Haus bis auf das Fundament nieder brannte.
Im kleinen Bergdorf machte sich die Angst breit. Man fürchtete sich vor dem flammenden Schatten. Würde er das ganze Dorf nach und nach zerstören?

Aaron saß am Rand einer Weide und lies sein Auge über die kleine Schafherde gleiten. Schon seit Tagen fürchete er um sein Leben. Aber er verrichtete trotzdem seine Arbeit. Die Bauern erwarteten dies von ihm und er hatte seine Aufgabe in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal vernachlässigt.
Immer wieder sah er zum Himmel hinauf. Waren die Schatten wieder da? Würde es bald wieder im Dorf brennen?
Doch der Himmel blieb klar und blau.
»Vielleicht ist es vorbei und die Schatten sind verschwunden.«
Jeder Mensch im Dorf hatte diese Hoffnung. Aber würde sie sich auch erfüllen?
Während Aaron nachdachte, bemerkte er nicht, dass sich ihm etwas näherte. Es warf einen großen und langen Schatten. Es bedeckte einen Teil des Himmels.
Plötzlich wurde es still. Der Wind blies nicht mehr, die Grillen verstummten. Es war nichts mehr zu hören.
Aaron schreckte aus seinen Tagträumen hoch und sah sich um. Der Schatten kam direkt auf ihn zu und landete vor ihm auf dem Boden.
Dem Hirten verschlug es die Sprache. Er wollte weg laufen, sich irgendwo versteckten, aber seine Beine versagten ihren Dienst. Sie bewegten sich nicht einen Zentimeter.
Aaron schloss seine Augen und erwartete das Schlimmste. Aber es geschah nichts.
Langsam öffnete der Hirte seine Augen und sah hinauf. Vor ihm saßen drei große Drachen, die gerade ihre Flügel auf ihrem Rücken zusammen falteten.
»Was wollt ihr von mir? Ihr versetzt unser Dorf in Angst und Schrecken, ihr verbrennt unsere Häuser und ihr wollt uns umbringen. Also warum wartet ihr noch und quält mich so? Bringt es endlich hinter euch.«
Die Drachen knickten in ihren Beinen ein und ließen sich auf ihre Bäuche nieder.
»Fürchte dich bitte nicht vor uns. Wir sind zu dir gekommen, um dich um Vergebung zu bitten.«
Aaron traute seinen Ohren nicht. Diese monströsen und gefährlichen Wesen schienen sich entschuldigen zu wollen.
»Wir sind auf der Flucht vor einer Welt, in der es für uns Drachen keinen Platz mehr gibt. Die Zukunft lässt sich nicht aufhalten. Es gibt nur noch wenige Prinzessinnen, die wir entführen könnten und fast keine tapferen Ritter, die gegen uns kämpfen wollen. Und das allerschlimmste ist, dass niemand mehr daran glaubt, dass es uns gibt. Man hält uns für ein Märchen.«
Die Drachen sahen traurig aus.
»Aber warum seid ihr dann zu uns gekommen?«
Aaron konnte noch immer nicht glauben, was er da gerade erlebte.
Schließlich erzählten ihm die Drachen, was sie in das Tal getrieben hatte.
»Wir sind auf der Suche nach einem Platz, wo wir in Ruhe leben können, wo wir niemandem zur Last fallen und uns niemand entdecken kann. Wir haben aus der Luft heraus euer kleines Dorf entdeckt und gesehen, dass von außen niemand hierher gelangen kann. Euer Tal ist genau der Ort, den wir gesucht haben. Allerdings war unsere Freude so enorm groß, dass wir unser Feuer nicht unter Kontrolle hatten. Es tut uns wirklich leid, dass wir zwei eurer Häuser verbrannt haben.«
Aaron hörte sich geduldig alles an, bis ihm schließlich eine Idee kam.

Einige Tage später gab es im Rathaus des Dorfes eine Versammlung. Der Bürgermeister stand ganz oben auf einer Treppe und sprach zu den Menschen, die gekommen waren.
»Meine lieben Freunde. Es ist an der Zeit, dass wir handeln müssen. Die fliegenden Schatten am Himmel werden wohl nie wieder verschwinden. Jeden Abend sehen wir sie und jeden Abend haben wir große Angst, dass weitere Häuser brennen.
Wir ihr mittlerweile schon erfahren habt, ist Aaron, der Hirte, seit einigen Tagen verschwunden. Seine Herde kam allein zurück ins Dorf. Doch von ihm fehlt jede Spur. Die Schatten werden ihn getötet haben.
Uns bleibt jetzt nur noch eine Möglichkeit. Wir müssen das Dorf verlassen und uns einen neuen Platz zum leben suchen.«
Es wurde still im Rathaus. Das die Lage schlimm war, wusste jeder. Doch nun würden die Menschen alles verlieren, was sie besaßen. Sie würden das gewohnte Leben, wie sie es kannten, beenden müssen.
Plötzlich wurden die großen Eingangstüren aufgestoßen und ein Mann, gekleidet in einem langen Mantel und einem tiefen Hut, kam herein. Er schritt mit langen Schritten durch die Menge und hinauf zum Bürgermeister, neben dem er Halt machte.
Er drehte sich zu den Leuten um, nahm den Hut ab und begann zu sprechen.
»Liebe Leute, die Zeit der Angst ist vorbei.«
Es war Aaron. Er war noch am Leben.
»Die Schatten, die euch seit Tagen ängstigen, sind große, feuerspuckende Drachen.«
Ein Raunen ging durch das Gebäude. Man hörte so manche leise Stimmen wimmern und weinen.
»Hört mich bitte an. Ihr kennt diese Wesen aus Legenden, Märchen und Geschichten. Ihr habt oft genug gehört, wie gefährlich sie sind und musstet am eigenen Leib erleben, was sie mit ihrem Feuer anrichten können. Doch damit ist nun Schluss.«
Ein Mann in der Menge begann zu jubeln, während einige Leute um ihn herum mit einstimmten.
»Aaron, der große Drachentöter, er hat uns von den Biestern befreit.«
Aaron musste lachen.
»Ganz so ist es nicht. Die Drachen leben. Aber sie sind weder Biester noch Monster. In Wahrheit sind sie sogar sehr nett und haben sich bei mir für ihre Taten entschuldigt.«
Der Hirte erklärte nun ganz genau, was ihm vor einigen Tagen auf der Weide widerfahren war.
»Sie werden von nun an bei uns leben. Sie werden unser kleines Tal mit uns teilen und darauf achten, dass uns niemand hier oben stört. Unsere Berge sind zwar sehr schwer zu erklimmen, aber es ist nicht unmöglich. Eines Tages würden andere Menschen hierher finden und alles verändern, was wir hier erschaffen haben. Doch davor müssen wir uns nie wieder fürchten. Wir haben nun ein paar mächtige Freunde, die über uns wachen.«
Die Menschen im Rathaus wussten nicht, was sie von dieser Nachricht halten sollten. Es klang ihnen nach einer Falle, nach einem großen Schwindel. Aber hatten sie denn eine andere Wahl?
Sie warteten einfach die Zeit ab.

Jahre später saßen der Bürgermeister und der Hirte Aaron gemeinsam in ihrem Liegestühlen vor dem Rathaus. In der Ferne ging die Sonne unter und die drei Drachen zogen ihre Kreise über die Berge.
»Weißt du was, Aaron? Damals hätte ich nie gedacht, dass wir mit Drachen so friedlich zusammen leben könnten. Aber nun ist es Wirklichkeit geworden. Und ich muss ehrlich sagen, dass es eine Wohltat ist, dass sie uns viel Arbeit abgenommen haben. Sie befreien im Winter unsere Straßen vom Schnee und wir müssen, dank ihres Feuers nicht mehr so viel Holz zum Heizen heran schaffen. Und unsere einzige Gegenleistung ist es, dass sie bei uns leben dürfen. Das war wahrlich die beste Entscheidung für unser Dorf, die wir je getroffen haben. Wir alle haben dir viel zu verdanken.«
Er stand auf, klopfte dem Hirten auf die Schulter und machte noch einen kleinen Spaziergang, um den Sonnenuntergang bis zum Ende genießen zu können.

(c) 2007, Marco Wittler

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