096. Eine kleine Hexe in der Stadt

Eine kleine Hexe in der Stadt

Es war einmal eine kleine Hexe namens Naseweiß. Sie lebte in einem kleinen Hexenhaus mitten in einem tiefen und dunklen Wald. Und das gefiel ihr gar nicht.
Nur selten kam ein Mensch, ein Zauberer oder eine andere Hexe zu Besuch.
»Mir ist so unglaublich langweilig.«, beschwerte sich Naseweiß täglich.
»Wenn mich doch nur jemand besuchen würde.«
Außerdem war es im Wald viel zu düster. Die Bäume standen sehr dicht beieinander und ließen keinen Sonnenstrahl zum Boden herab scheinen. Da konnte man sehr schnell Angst bekommen.
»Der Wald macht mir richtig Angst. Wenn es Abend wird traue ich mich gar nicht vor die Tür.«
Die kleine Hexe bibberte sofort am ganzen Körper, wenn sie nur daran dachte.
»Warum lebe ich überhaupt hier?«, fragte sie sich dann immer. Doch die Antwort fiel ihr dann auch immer gleich wieder ein.
»Ich lebe hier, weil Hexen nun einmal in kleinen Hexenhäusern mitten in tiefen und dunklen Wäldern leben. Meine Mutter lebte hier, meine Großmutter, sogar meine Urgroßmutter und noch viele mehr, denn sie waren alle Hexen gewesen. Das ist so ungerecht.«

Eines Abends saß Naseweiß in ihrem großen Ohrensessel und las in der Zeitung. Draußen pfiff der Wind um das Haus, die Bäume knackten und das Laubwerk raschelte. Es war richtig unheimlich. Nicht einmal das beruhigende Prasseln des Kaminfeuers konnte etwas daran ändern.
Eiskalt kroch es der Hexe den Rücken herab. Sie konnte sich kaum auf das Lesen konzentrieren. Doch dann fiel ihr Blick auf einen Artikel, der ihre Neugierde weckte. Dort stand Folgendes geschrieben:

Träumen sie auch von Gemütlichkeit?
In der Stadt werden sie es finden. Alles was sie zum Leben brauchen, gibt es hier. Sie ist voller Menschen, an jeder Ecke ein kleines Restaurant, ein Kino und mehr. Nie wieder harte Arbeit und keine Angst in der Einsamkeit. Das alles finden sie nur in der Stadt. Es ist genug Platz für alle da.

Naseweiß dachte darüber nach. Ein Leben ohne Angst? Außerhalb des Waldes? Vielleicht würde sie in den Straßen der Stadt sogar die Sonne und in der Nacht die Sterne sehen können.
»Das es so was wirklich gibt.«
Doch dann fiel ihr etwas ein.
»Aber ich bin doch noch immer eine Hexe. Und die leben in ihren Hexenhäusern.«
Traurig legte sie die Zeitung beiseite und krabbelte traurig in ihr Bett.

Am nächsten Morgen wurde Naseweiß wieder wach. Sie hatte gehofft, dass ihr Leben normal weiter gehen könnte, doch da hatte sie sich getäuscht. Noch immer dachte sie an nichts anderes, als an das Leben in der Stadt.
Egal, ob sie auf einer nahen Waldlichtung Kräuter sammelte, in magischen Büchern blätterte oder in ihrem großen Hexenkessel rührte, dieser Gedanke ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Schließlich fasste sie einen Entschluss.
»Ich werde mein Hexenhaus verlassen und in die große Stadt ziehen.«
Naseweiß warf den Kochlöffel in eine Ecke, löschte das Feuer unter ihrem Kessel und flitzte in ihr Schlafzimmer.
»Irgendwo muss doch mein Reisekoffer sein.«
Sie fand ihn unter ihrem Bett. Er war mittlerweile voll Spinnweben, so lange war er nicht mehr benutzt worden. Die kleine Hexe packte die wichtigsten Dinge hinein und ging vor das Haus. Dort schnappte sie sich ihren Besen, setzte sich darauf und flog aus dem tiefen und dunklen Wald heraus.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die letzten Bäume hinter sich gelassen hatte. Vor ihr lagen nun weite Kornfelder. Und ganz hinten am Horizont konnte man die ersten großen Häuser sehen.
Die Reise dauerte einen ganzen Tag, bis Naseweiß die ersten Wolkenkratzer erreichte. Sie legte ihren Kopf weit zurück in den Nacken und sah an diesen großen Gebäuden hinauf.
»Du meine Güte. Diese Häuser sind ja mindestens doppelt so hoch, wie der größte Baum des ganzen Waldes.«
Sie umrundete auf ihrem Besen ein Hochhaus nach dem anderen. Es ging hin und her, rauf und runter, bis sie schließlich ein besonders schönes Hochhaus fand. Seine Außenwände schienen komplett aus Glas zu bestehen.
»Da drin möchte ich wohnen. Das ist das perfekte neue Hexenhaus für mich.«
Und nach einem kurzen Zauberspruch befand sich die kleine Hexe mitten in einer Wohnung.
Doch dann erlebte sie eine Überraschung, denn diese Wohnung war keinesfalls leer. In der Küche, in der sie sich nun befand, saß gerade eine Familie am Mittagstisch.
Der Vater sprang sofort auf und schnappte sich einen Wischmop als Waffe.
»Wer sind sie und wie sind sie hier herein gekommen? Verschwinden sie oder ich rufe die Polizei.«
Naseweiß war so erschrocken, dass sie sich sofort wieder auf ihren Besen setzte und aus dem offenen Fenster hinaus flog. Fast hätte sie dabei ihren Koffer vergessen.
»Das waren aber unfreundliche Menschen. Mich einfach mit einem Stock zu bedrohen. Also so etwas.«
Sie flog weiter und sah sich nach etwas anderem um. Aber es war alles andere als leicht, eine neue Bleibe zu finden.
»Dabei stand doch in der Zeitung, dass es hier jede Menge Platz zum Wohnen geben würde.«
Naseweiß landete mitten auf einem großen Platz. Doch damit fingen auch schon die nächsten Probleme an. Plötzlich hörte sie laute Geräusche, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Links, rechts, vorn und hinten standen eine Vielzahl großer Blechbüchsen auf Rädern. Und in jeder von ihnen saßen grimmig schauende Menschen. Sie alle hupten, als gäbe es einen Preis für den Lautesten.
»Verschwinde von der Straße. Du hältst den Verkehr auf.«, rief einer.
»Hast du keine Augen im Kopf? Du gehörst auf den Gehweg.«, brüllte ein anderer.
Die kleine Hexe packte schnell ihre Sachen zusammen und lief zur Seite, damit die Autos wieder fahren konnten.
Ein kleiner Junge blieb stehen, sah Naseweiß an und schüttelte den Kopf.
»Du bist aber eine komische Frau. Dabei lernt man doch schon im Kindergarten, dass man nicht einfach auf der Straße oder einer Kreuzung stehen bleiben darf.«
Ganz verschüchtert ging Naseweiß weiter. Sie wusste nun gar nicht mehr, was sie machen sollte. Sie fand keinen Platz zum Leben und die vielen verwirrenden Regeln der Stadt kannte sie auch nicht.
»Ich werde es aber trotzdem schon schaffen.«
In diesem Moment kam sie an einer anderen Straße an. Dieses Mal wollte sie alles richtig machen und achtete genau auf die anderen Menschen. Sie standen alle zusammen und warteten, während die Autos an ihnen vorbei rollten. Doch dann blieben die Blechbüchsen stehen und die Menschen gingen über die Straße.
»Ach, so geht das. Wenn die Autos anhalten, darf man über die Straße gehen.«
Da nahm sie allen Mut zusammen und lief den Leuten hinterher. Doch genau in diesem Augenblick wurde die Ampel wieder rot. Die kleine Hexe hatte zu lange gewartet.
Erneut ertönte ein lautes Hupkonzert und die Autofahrer wurden sauer.
»Verschwinde von der Straße, du langsame Schnecke. Pass das nächste Mal gefälligst besser auf.«
Naseweiß lief so schnell sie konnte und versteckte sich hinter einer Hausecke.
»Du meine Güte. Ich hätte nicht gedacht, dass die Stadt noch gefährlicher ist, als der tiefe und dunkle Wald. Und alle sind hier so unfreundlich. Da hat mich die Zeitung aber ganz schön belogen. Hier will ich nicht mehr bleiben. Hier fühle ich mich ganz und gar nicht wohl.«
Die kleine Hexe setzte sich enttäuscht auf ihren Besen, nahm den Koffer unter dem Arm und flog nach Hause.
Ein kleines Mädchen sah ihr dabei zu und wunderte sich.
»Schau mal, Mama. Was ist denn das für ein komischer Vogel?«
Die Mutter sah gar nicht hin und zog ihr Kind über die Straße.
»Komm, wir haben keine Zeit für komische Vögel.«

Am Abend saß Naseweiß wieder in ihrem großen Ohrensessel und der Kamin prasselte neben ihr. Draußen wehte der Wind, die Bäume knackten und das Laubwerk raschelte.
»Ach ja.«, murmelte die kleine Hexe.
»Zu Hause ist es doch am Schönsten.«

(c) 2008, Marco Wittler

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