Flaschenpostbote Knut wird vom Sturm überrascht
Knut zog sich die blaue Jacke über, strich die Ärmel glatt und sah sich prüfend im Spiegel an. Etwas fehlte da noch. Ach, ja. Die passende Schirmmütze gehörte unbedingt auf den Kopf. Er legte den breiten Ledergürtel und seine große, schwere Tasche um. Zuletzt rückte er das Schild mit der Aufschrift FLASCHENPOST auf der Brust zurecht und nickte endlich. Er war fertig und konnte in den Tag starten.
Der Meermann, verließ er sein Haus und schwamm los. Die Flaschenpost musste ausgeteilt werden. Sein Weg führte ihn wie immer zuerst zur nahen Grundschule, wo die Kinder am Zaun schon auf ihn warteten.
»Knut!«, stürmten sie laut rufend auf ihn zu. »Kannst du uns eines deiner verrückten Erlebnisse erzählen?«
Knut strich sich seinen Schnurrbart zurecht, dachte kurz nach und begann zu grinsen.
»Mir fällt da etwas ein. Ich habe neulich einen Sturm erlebt, der so gewaltig war, dass ich ihn nur mit Mühe, Not und ganz viel Glück überlebt habe.«
Auf dem Schulhof wurde es mucksfischchenstill, als Knut zu erzählen begann.
Flaschenpostbote Knut hatte seine morgendliche Arbeitsschicht gerade erst begonnen. In seiner ledernen Umhängetasche steckten viele Flaschen, die er in den nächsten Stunden austragen musste. Dabei ging es dann von einem Ende der Stadt zum nächsten und wieder zurück. Diese Tour schwamm er jeden Tag aufs Neue. Doch dieses Mal sollte sich etwas Dramatisches dabei ereignen.
Knut steuerte das erste Haus an, öffnete den Briefkasten und stellte eine der Flaschen hinein. Vorher prüfte er natürlich noch einmal, ob auch die Empfängeradresse korrekt war.
In diesem Moment verdunkelte sich die Stadt. Es schien, als würde ein Sturm aufziehen.
»Ich glaube, ich sollte mich etwas beeilen, wenn ich mit heiler Haut nach Hause kommen möchte.«
Knut sah sich immer wieder um und hielt die Schatten über sich im Auge. Er wusste genau, dass über dem Meer dunkle, graue Regenwolken aufzogen, sie normalerweise kräftigen Wind mit sich brachten und dieses Wetter hier unten für gefährliche Strömungen sorgte. Da war man gut beraten, sich währenddessen Zuhause aufzuhalten.
Ein paar Minuten später, Knut hatte noch lange nicht die Hälfte der Flaschen ausgetragen, spürte er erste Bewegungen im Wasser. Es begann.
»Ich muss hier dringend weg.«
Die Flaschenpost musste warten. Jetzt ging es nur noch um die eigene Sicherheit des Meermanns. Knut paddelte mit seiner Schwanzflosse so schnell, wie er nur konnte. In der Ferne sah er bereits das Flaschenpostamt. Doch noch bevor er es erreichen konnte, erwischte ihn eine Strömung mit voller Wucht und spülte ihn in eine Seitenstraße. Nur mit allergrößter Kraftanstrengung konnte er sich an einem Laternenpfahl festklammern, um nicht aus der Stadt getrieben zu werden.
»Das kann doch gar nicht sein. Was geht hier vor? Ich habe in meinem Leben noch keinen einzigen Sturm erlebt, der so schnell aufzieht.«
Knut sah zur Meeresoberfläche hinauf, versuchte herauszufinden, was da geschah.
»Zum Neptun. Das ist ja allerhand.«
Knut wagte sich aus seiner Deckung heraus, ließ sich nun doch in die Strömung gleiten und stieg dabei zur Oberfläche auf. Schnell kam er den dunklen Schatten näher.
»Verdammt nochmal!«, brüllte der Flaschenpostbote grimmig. »Müsst ihr gerade über unserer Stadt spielen? Könnt ihr das nicht auch woanders machen?«
Es waren keine Wolken, die vorbei zogen, es war eine große Gruppe Blauwale, die mit einem wilden Spiel beschäftigt war. Der Anführer hielt inne, besah sich den Meermann, der kleiner als sein eigenes Auge war und bremste seine Gruppe ab.
»Tut mir leid, Kleiner. Wir haben gar nicht darauf geachtet, dass unter uns jemand lebt. Wir werden uns vorsichtig in eine andere Gegend verziehen. Ich hoffe, dass niemand zu Schaden gekommen ist.«
Knut bedankte sich und sah den Walen hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann setzte er seine Runde fort.
Die Kinder der Grundschule sahen Knut mit großen Augen an. So viele große Wale auf einem Haufen hatten sie selbst noch nie gesehen.
»Ihr könnt mir glauben, alles was ich erlebt habe, ist wahr. Wale können mit ihren riesigen Flossen richtig gefährliche Strömungen auslösen. Damit ist nicht zu spaßen.«
Knut winkte noch einmal zum Abschied, machte sich wieder auf den Weg und verteilte die restliche Flaschenpost.
(c) 2021, Marco Wittler
Bild: Nik Karlov auf Pixabay
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