1035. Kleine Maus mit großer Idee

Kleine Maus mit großen Ideen

Draußen lag die Katze vor dem Mauseloch und spähte mit ihrem rechten Auge immer wieder in die Dunkelheit hinein. Irgendwo dort drinnen mussten die kleinen Nager doch sein.
Sie konnte sie hören, keine Frage. Sie konnte sie sogar riechen. Nur das mit dem Sehen war so eine Sache. Denn zwischen ihr und ihrer Beute war eine dicke Wand, die sie nicht so einfach durchqueren konnte.
»Ich werde euch kriegen.« ,drohte sie immer wieder, während sie von einer Seite des Mauselochs zur anderen schlich. »Mir ist noch keine einzige Maus entkommen. Eine bessere Jägerin als mich gibt es nicht.«
Und wenn sie nicht gerade unruhig hin und her wanderte, lag sie nur wenige Zentimeter vor dem Loch auf der Lauer und fummelte mit ihrer Pfote immer wieder darin herum.
Warum ließen sich die Nager nur so viel Zeit? Warum versuchten sie seit Stunden das Unausweichliche hinaus zu zögern? Sie würden doch eh im Magen der Katze landen.
Zur selben Zeit, in Inneren der Wand, saßen zwei Mäuse, die am ganzen Leib zitterten. Zu schön war die Zeit gewesen, in der sie niemand entdeckt und beachtet hatte. Zu einfach war es gewesen, tief in den Nächten Futter aus der Küche der Menschen zu stehlen. Doch damit war nun wohl endgültig Schluss.
»Ich halte dich hier nur unnötig auf.«, sagte der Mäuserich zu seiner Maus. »Seit die Katze mich vor ein paar Stunden mit ihrer Pranke erwischt und geschlagen hat, kann ich meine Beine nicht mehr bewegen. Ich komme hier einfach nicht fort. Du musst allein von hier verschwinden und dir ein neues und sicheres Heim suchen.«
Tränen standen in seinen Augen, denn er wusste nur zu gut, dass er nicht mehr in der Lage war, Futter zu suchen oder ein neues Mauseloch aufzusuchen. Sein Schicksal war besiegelt. Er würde früher oder später in dieser Wand verhungern oder zu Katzenfutter werden.
»Ich kann aber nicht ohne dich fort gehen.«, sagte die Maus zum Mäuserich und schluchzte laut. »Du bist doch mein Freund. Ich lasse mir etwas einfallen und werde dich retten.«
Die kleine Maus schlich sich zum Loch und sah vorsichtig hinaus. Die Krallen der Katze waren ihr ganz nah. Daran konnten sie unmöglich vorbei kommen.
»Wir brauchen einfach nur einen günstigen Augenblick. Sie kann uns nicht ewig hier festhalten.«
Und als hätte die kleine Maus es geahnt, verließ die Katze ihren Platz und ging zu ihrer Toilette. Es wurde Zeit, die Blase zu entleeren.
»Ich weiß ganz genau, dass ihr mich beobachtet.«, rief die Katze laut durch den Raum. Aber ich werde gleich wieder da sein. Ihr könnt mir nicht entkommen.«
Entkommen wollte die kleine Maus auch nicht. Sie wollte nur ein paar Dinge besorgen. Schnell lief sie los, begab sich aus der Deckung und flitzte einmal quer durch das Wohnzimmer. In der Handarbeitsecke, die die Menschenfrau sich hier eingerichtet hatte, in der ihrem Hobby nachging und Puppen nähte, gab es jede Menge Utensilien, die jetzt perfekt helfen konnten.
Die Maus schnappte sich eine Fadenrolle, mehrere Nadeln, Knöpfe und Fingerhüte. Damit ging es zurück ins Mauseloch. Gerade rechtzeitig war sie zurück, wenige Sekunden, bevor
sich die Katze wieder auf die Lauer legte.
»Bist du verrückt geworden? Was sollte das denn werden?«, regte sich der Mäuserich auf und begann laut zu schimpfen. »Wolltest du auch noch von der Katze erwischt werden? Ist es nicht schon genug, dass ich selbst nicht mehr laufen kann? Er hätte dich sogar fressen können.«
Die kleine Maus lächelte vor sich hin, setzte sich in eine Ecke und begann zu basteln. Was sie geplant hatte, sagte sie nicht. Die Überraschung wollte sie sich bewahren.
Sie nahm einen Fingerhut und befestigte daran drei Knöpfe. Einer kam an die linke, einer an die rechte Seite. Der Dritte kam etwas höher an die Rückseite. Alles wurde mit einem Bindfaden ordentlich befestigt.
»Was ist denn das? Was machst du da?«, fragte der Mäuserich immer wieder. Die Neugierde hatte ihn mittlerweile gepackt. Doch erst, als die Maus fertig war, erzählte sie ihm, was sie sich ausgedacht hatte.
»Das, mein Lieber, ist ein Rollstuhl. Ich habe sowas mal gesehen, als die Menschen vor ihrem Fernseher saßen. Du setzt dich drauf und ich schiebe dich durch die Gegend.«
Der Mäuserich bekam große Augen. »Und du bist sicher, dass das funktioniert? Wir müssen immer noch an der Katze vorbei.«
Die Maus nickte eifrig. »Wenn wir es gemeinsam machen, schaffen wir es. Ich schiebe und gibst mit den Händen bei den Rädern Gas.«
Sie warteten eine Weile. Die Sonne ging draußen unter und die Menschen gingen irgendwann in ihre Betten. Die Katze jedoch lag weiter vor dem Mauseloch und wartete.
»Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich in der Nacht verschwinde.«, raunte sie ihren Opfern entgegen. »Ich warte einfach. In der Nacht kann ich nämlich besonders gut sehen. Ich werde euch sogar auflauern, wenn ich einschlafen sollte.«
Und so kam es dann auch. Die Katze rollte sich ganz nah vor dem Mauseloch ein und begann zu schnarchen. Das war der Moment, den die Maus erwartet hatte. Sie half dem Mäuserich in den Rollstuhl und schon ihn langsam nach draußen. Er half kräftig mit. So kamen sie schnell vorwärts. Allerdings quietschten die Räder bei jeder Umdrehung. »Wir müssen uns beeilen.«, sagte er zu ihr. »Wenn die Katze wach wird, ist es um uns geschehen.«
Sie schafften Meter um Meter, bis das Schnarchen irgendwann erstarb und einem Knurren Platz machte. Die Katze war erwacht, buckelte sich und stand von ihrem Schlafplatz auf. Sie hatte die beiden Mäuse bereits entdeckt, machte sich zum Sprung bereit und setzte ihnen nach.
Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Die beiden gaben ordentlich Gas und rasten mit dem Rollstuhl durch das Haus. Das Ziel war die Tür, die vom Flur in die Garage führt. Dort gab es ganz viele Verstecke und auch einen Ausgang nach draußen in die Freiheit.
Die Katze sprang, kam wenige Zentimeter hinter den Mäusen wieder auf und schlug mit der Pfote nach ihnen. Sie erwischte die Beiden nur ganz knapp und gab ihnen damit den letzten Schwung. Der Rollstuhl stürzte in die Garage und verschwand unter einem Schrank. Die Mäuse waren in Sicherheit. Das Gesicht der Katze lief unter ihrem Fell rot an. Sie verzog sich laut schimpfend auf ihren Kratzbaum und schwor sich, die Garage im Auge zu behalten.
Die beiden Mäuse hingegen waren überglücklich, es geschafft zu haben und drückten sich.
»Ich habe niemals an dir gezweifelt.«, sagte der Mäuserich dankbar. »Ich bin froh, dass du mich nicht aufgegeben hast, auch wenn ich nicht mehr laufen kann.«
Die Maus winkte ab und lächelte ihn an. »Du gehörst zu mir und bist immer noch der Selbe wie früher. Ich würde dich nie zurück lassen. Und mit deinem Rollstuhl kannst du mich jetzt auch überall hin begleiten. Darauf freue ich mich ganz besonders.«

(c) 2021, Marco Wittler

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