1038. Flaschenpostbote Knut schaut fern

Flaschenpostbote Knut schaut fern

Flaschenpostbote Knut war während seiner Tour durch die Stadt unter dem Meer den Außenbezirken immer näher gekommen. Hier draußen standen nur noch wenige Häuser. Hier gab es auch die ersten Ausläufer des großen Riffs, das die gesamte Stadt umschloss. Während es zwischen den Korallen vor Leben nur so wimmelte, fiel dem alten Meermann über sich ein großer Schatten auf, der sich langsam und gemächlich dahin bewegte.
Knut sah hinauf und nahm das Ding in Augenschein. »Sieh an. Die Menschen wagen sich in ihren schaukelnden Nussschalen wieder hinaus auf das Meer. Hoffentlich sinkt ihr Boot nicht. Es liegen schon genug davon am Meeresgrund.«
Er konnte sich nicht vorstellen, warum diese Landbewohner es immer wieder versuchten, sich den Meeresbewohnern zu nähern, in ihre Welt einzudringen und sich hier breit zu machen. Sie konnten weder richtig schwimmen und tauchen, noch unter Wasser atmen. Sie waren einfach nicht für ein Leben im Ozean gemacht.
Knut wurde neugierig. Was hatten sie wohl vor? Er tauchte vorsichtig auf und näherte sich dem Boot. Über die Reling konnte er nicht schauen. Sie war leider ein Stück zu hoch. Stattdessen warf er einen Blick durch eines der Bullaugen, wie die Menschen diese runden Fenster nannten.
Im Innern des Boots entdeckte der Flaschenpostbote einen Mann und eine Frau, die vor einem Tisch saßen und in einen viereckigen Kasten blickten, der hell leuchtete.
»Was machen die denn da?«, fragte sich Knut. Was kann an einem Licht so spannend sein, dass man seinen Blick nicht abwenden kann?«
Er strengte seine alten Augen an und sah etwas genauer hin. Dieser Leuchtkasten zeigte bewegte Bilder. Er ließ die Menschen sehen, wie es unter ihnen aussah. Sie blickten fasziniert auf das Leben im Riff. Irgendwo unter dem Boot schien sich das Auge des Kastens zu befinden.
»Beim Neptun!«, entfuhr es Knut amüsiert. »Die Menschen sind verrückt geworden. Das geht doch alles viel einfacher. Man muss nur ein wenig tauchen.«
Der Meermann wendete sich ab und schwamm wieder hinab zum Riff. Die Gedanken an die Menschen ließen ihn allerdings nicht los.
Knut suchte sich im Wrack eines alten Bootes vier Holzlatten, verband sie mit etwas Seegras zu einem Viereck und stellte dieses dann vor das Riff. Nun konnte auch er diese Schönheit der Natur so erleben, wie es die Menschen taten.
Er lachte laut und stieß seinen Behelfskasten nach wenigen Augenblicken um. »Die sehen ja nur einen winzigen Ausschnitt. Sie wissen gar nicht, wie herrlich das Riff in seiner Gesamtheit ist, die man nur mit den eigenen Augen begreifen und genießen kann.«
Er lehnte sich zurück, seufzte einmal laut und sah dem bunten Treiben den restlichen Nachmittag zu.

(c) 2021, Marco Wittler

Bild: Nik Karlov auf Pixabay

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