Die Zeit steht still
Anna stand an ihrem Fenster und sah in den Hof des Schlosses hinab. Heute war ihr großer Tag. Schon lange hatte sie sich auf dieses Ereignis gefreut. Endlich war es so weit.
Nachdem an die Tür geklopft wurde, trat ein hoher Minister des Königs ein.
»Aber Herr Minister.«, beschwerte sich Anna.
»Dies ist das Gemach einer Dame. Wie könnt ihr es wagen, ohne Erlaubnis einzutreten?«
Der Minister verbeugte sich so tief, dass er mit seiner Nasenspitze fast den Boden berührte.
»Es tut mir leid. Aber dringende Umstände veranlassten mich zu dieser schändlichen Tat. Ich bitte um eure Vergebung.«
Anna legte einen prüfenden Blick auf den Minister.
»Ich habe fünf Mal geklopft. Kein einziges Mal habe ich von euch auch nur einen Laut gehört. Da hatte ich die Befürchtung, dass euch etwas zugestoßen sein könnte.«
Nun wurde Anna rot im Gesicht. War sie so sehr in Gedanken gewesen, dass sie alles um sich herum vergessen hatte?
»Was wünscht ihr von mir, Minister?«
»Der König wünscht euch jetzt zu sehen. Es ist so weit. Die Zeremonie kann beginnen.«
Der große Moment war gekommen. In ein paar Minuten würden sich alle wichtigen Menschen des Hofes im Thronsaal befinden.
Der Minister geleitete Anna hinab in die große Halle, wo sie von einigen Dienern empfangen und mit teuren Umhängen und Schmuck ausgestattet wurde.
Die großen Türen wurden geöffnet. Am Ende des Saals saß der König auf seinem Thron. Links und rechts von ihm standen die vielen Minister, die sich um die Staatsgeschäfte kümmerten. Doch sie waren heute nur als Gäste geladen. Die Hauptperson würde heute Anna sein.
Nervös schritt sie hinein und kam erst vor dem König zum stehen. Sie kniete sich vor ihm nieder und begrüßte ihn nach alter Sitte.
»Ich wünsche euch ein langes und erfolgreiches Leben, euer Majestät.«
Der König nahm sie bei der Hand und half ihr wieder hoch.
»Meine Freunde.«, sagte er laut. »Heute ist ein großer Tag für unser Königreich. Es kommt nicht oft vor, dass jemand in einen so hohen Staatsdienst gehoben wird. Noch seltener erhält eine Frau diesen Posten. Doch heute dürfen wir beides gleichzeitig erleben.«
Er nahm eine Schriftrolle zur Hand, öffnete sie und zeigte allen Anwesenden, was darauf stand.
»Die junge Dame Anna wird heute, eine Woche nach dem tragischen Tod ihres Vorgängers, zu meiner engsten Beraterin ernannt. Sie wird mich in allen Regierungsdingen unterstützen. Ihr Wort ist für jeden von euch bindend, so lange ich es nicht widerrufe.«
Der König reichte seiner neuen Beraterin ein goldenes Schwert, welches allen Menschen zeigte, wer sie nun war.
Alle Leute begannen nun zu klatschen, während sich Anna ein weiteres Mal vor dem König verbeugte und dann neben ihm Platz nahm.
Sie hatte es nun endlich geschafft, einen sehr bedeutenden Posten am Hofe des Königs zu bekommen. Ihr großer Traum war nun Wirklichkeit geworden.
Ein paar Monate später war Anna eingearbeitet. Sie hatte nicht erwartet, was sie alles zu tun hatte. Der König kam ständig mit neuen Ideen zu ihr. Er wollte wissen, was seine Beraterin davon hielt. Zwischendurch gab es immer wieder Treffen mit den Ministern. Und wenn dann noch Zeit blieb, musste sie Anweisungen an die Bediensteten weitergeben und Gespräche mit den einfachen Leuten führen, wenn sie Probleme hatten.
»Wenn ich gewusst hätte, wie wenig Zeit mir für mich bleibt, dann wäre ich niemals Beraterin des Königs geworden. Wenn ich doch bloß mehr Ruhe hätte.«
Eines Tages hielt es Anna nicht mehr aus. Sie fühlte sich leer. Also packte sie ein paar Sachen zusammen und lief fort. Sie wollte den Hof des Königs nicht verlassen. Sie wollte einfach nur ein paar ruhige Stunden im nahen Wald verbringen, ohne ständig an die Arbeit denken zu müssen.
Völlig geschafft und müde lief sie zwischen den Bäumen her und versteckte sich schließlich hinter einem großen Busch.
»Hier möchte ich mich ausruhen und ein wenig Schlafen.«
Sie legte sich hin, schloss die Augen und war bald in die Welt der Träume entschwunden.
Es verging nicht einmal eine Stunde Zeit, bis Anna wieder wach wurde. Ein lauter Krach weckte sie unsanft.
»Was ist denn hier los? Ich möchte mich doch einfach nur ein wenig ausruhen.«
Sie sah durch die Äste hindurch und entdeckte zwei dicke fette Kater, die auf dem Waldweg saßen und mit einem kleinen Wesen spielten. Es schien wehrlos zu sein.
»Oh nein, sie werden es bestimmt töten, wenn ich nichts dagegen unternehme.«
Anna sprang hervor und scheuchte die Kater mit einem dicken Stock fort. Dann sah sie nach dem kleinen Wesen.
Sie nahm es vorsichtig in die Hand und besah es sich etwas genauer.
»Was bist du denn für ein Tier? Du hast zwar zwei Flügel auf dem Rücken, aber ein Vogel kannst du nicht sein. Du hast gar keine Federn am Körper.«
Das Wesen drehte sich langsam und ängstlich herum.
»Ich bin kein Tier. Ich bin nur eine kleine Fee. Willst du mich etwa auch auffressen, wie diese beiden schrecklichen Raubtiere?«
Anna lachte leise.
»Hab bitte keine Angst. Ich bin Anna, die oberste Beraterin des Königs. Ich werde dir bestimmt kein Leid zufügen. Ich wollte dir nur dein Leben retten.«
Die kleine Fee beruhigte sich.
»Ich danke dir. Währst du nicht gewesen, wäre ich jetzt bestimmt schon zum Mittagessen geworden. Als Dank möchte ich dir einen Wunsch erfüllen.«
Anna schüttelte den Kopf.
»Mir geht es gut. Du brauchst mir nichts zu schenken. Ich habe alles, was ich brauche.«
Doch die Fee lies sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen und wedelte mit einem kleinen Zauberstab vor der Nase ihrer Retterin herum.
»Sind die Wünsche auch groß und klein. Alle sehe ich in deinem Herz. Eine reine Seele nennst du dein. D’rum nehm‘ ich dir den Schmerz.«
Ein Licht flackerte in Annas Hand auf. Die Fee war verschwunden.
»Was für eine komische Begegnung.«
Anna wollte nun nur noch nach Hause. Sie hatte genug im Wald erlebt. Sie packte ihre Sachen zusammen und ging zurück zum Schloss. Doch dort sollten noch viel unglaublichere Dinge geschehen.
Die Wachen am Tor bewegten sich nicht. Sie standen dort wie zwei steinerne Statuen. Selbst die Bediensteten und Minister waren erstarrt. Nicht einmal der König konnte sich bewegen. Alles im Schloss war still.
»Du meine Güte, was ist denn hier geschehen? Wie konnte das passieren?«
Anna dachte gleich an den Zauber einer bösen Hexe. Doch wie sollte dieser gebrochen werden?
»Wir haben doch keinen tapferen Prinzen am Hofe, der mit der Hexe kämpfen könnte.«
Traurig zog sich Anna in ihre Gemächer zurück, legte sich auf ihr Bett und schlief sehr schnell ein.
Es wurde ein sehr unruhiger Schlaf. Sie fand einfach nicht die Ruhe, die sie brauchte. Die Geschehnisse im Schloss holten sie immer wieder aus ihren Träumen hervor. Dazu kam noch, dass sich der Tag nicht mehr zum Abend neigte. Die Sonne stand am Himmel still und bewegte sich nicht mehr auf den Horizont zu.
Schließlich stand Anna wieder auf, ging an ihr Fenster und rief verzweifelt die kleine Fee.
Es dauerte nicht lange, bis sie in einem Lichtblitz erschien.
»Was hast du denn, mein Kindchen? Bist du denn mit deinem Wunsch nicht zufrieden?«, fragte sie.
Anna war verwirrt.
»Bist du etwas daran schuld, dass sich niemand mehr bewegen kann?«
Die Fee nickte.
»Du hast dir tief in deinem Herzen so viel Ruhe gewünscht, dass ich für dich die Zeit angehalten habe.«
Anna begann zu weinen.
»Aber das wollte ich nicht. Ich will nicht allein auf der Welt wach sein, während alle anderen in der Zeit schlafen müssen. Bitte mach das wieder rückgängig.«
Die Fee sah erst enttäuscht zu Boden.
»Zu nichts bin ich nütze. Jeden Wunsch, den ich in meinem Leben erfüllt habe, war zu nichts gut. Ich werde nie eine gute Fee.«
Doch dann fiel ihr etwas ein.
»Wenn ich dir so nicht helfen kann, dann gibt es vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit.«
Während sie mit ihrem Zauberstab wedelte, wachten alle Menschen wieder auf und gingen ihren Geschäften nach.
Ein paar Tage später ging Anna gemütlich durch das Schloss. Sie traf sich mit dem König, um ihn bei Verhandlungen mit einem Fürsten zu beraten. An ihrer Seite flog eine kleine Fee, die sich sehr darum bemühte, die beste Beratungshelferin des ganzen Königreichs zu werden. So konnte sich Anna die Arbeit mit jemand anderem teilen und hatte dadurch viel mehr Zeit zum entspannen.
(c) 2008, Marco Wittler
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