1090. Schlaflos

Schlaflos

es war mitten in der Nacht. Schon seit Stunden versuchte ich, irgendwie in den Schlaf zu kommen, was mir aber nicht gelingen wollte. Mal hatte ich zu heiße Füße, mal fror ich. Dann hatte ich Durst und etwas später musste ich zur Toilette. Irgendwas war immer.
Ich hielt es in meinem Bett nicht mehr aus. Ich erinnerte daran, was mir meine Oma in meiner Kindheit immer wieder erzählt hatte. Frische Luft macht müde. Eigentlich wollte sie mich damit aus dem Haus schicken, um nicht meine ganze Freizeit vor dem Fernseher zu verbringen. Aber nun wollte ich mein Glück probieren und ging im Schlafanzug vor die Tür.
Kalte Luft schlug mir entgegen. Statt mich müde zu machen, war ich von einem Augenblick zum anderen noch wacher.
Ich atmete ein paar Mal tief durch und wollte gerade wieder ins Bett verschwinden, als ich am anderen Ende der Straße einen Mann entdeckte, der zielstrebig auf mich zu kam.
Mich fröstelte. Trotz seiner äußerst vornehmen Kleidung, er steckte in einem schwarzen Frack, trug Zylinder und hatte eine Fliege um den Hals gebunden. In seiner rechten Hand hielt er einen geschlossenen Regenschirm, den er als Stock nutzte.
Er war mir nicht geheuer. Ich verspürte den drängenden Wunsch, sofort ins Haus zurück zu gehen und mich unter meiner Decke zu verstecken. Ich kam aber nicht vom Fleck. Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Der Fremde kam näher, durchschritt das Gartentor und blieb nur wenige Zentimeter vor mir stehen. Seine bleiche Haut, die ich nun gut sehen konnte, wirkte wie tot.
Plötzlich hob er seine Hand streckte sie mir langsam entgegen und legte sie an meine Kehle. Er drückte fest zu, zog mich an sich heran und öffnete seinen Mund. Die langen, spitzen Zähne, die nun zum Vorschein kamen, spiegelten das fahle Mondlicht wieder. Nun wurde mir bewusst, wen ich da vor mir hatte. Es war ein Vampir, der es auf mein Blut abgesehen hatte. Er wollte mich beißen.
Die Gier trat in seine Augen. Er riss die Kiefer auseinander, wollte gerade seine Zähne in meinen Hals schlagen, als eben diese heraus und auf den Boden fielen. Er trug tatsächlich ein Gebiss, welches nur Sekundenbruchteile später auf den Steinplatten unter mir in zwei Stücke zersprang.
Entsetzt sah der Vampir auf seine Zähne, klaubte sie schnell auf und steckte sie in die Tasche.
»Hoffentlich hat mein Zahnarzt heute Nacht geöffnet. Hoffentlich kann man das Gebiss noch reparieren.«
Schon wollte er sich auf den Weg machen, machte ein paar Schritte zur Straße und hielt noch einmal inne. Er drehte sich wieder zu mir um.
»Du wartest doch hier auf mich? Ich komme wieder, sobald ich wieder beißen kann. Dann setzen wir mein Nachtmahl fort.«
Ich nickte stumm, wischte mir den Schweiß von der Stirn und verschwand eiligst im Haus. Diesem Zeitgenossen wollte ich nicht als Speise dienen und hoffte, ihm nie wieder zu begegnen.

(c) 2021, Marco Wittler


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