1105. Der erste Leuchtturm

Der erste Leuchtturm

Es war dunkle Nacht. Der Sternenhimmel war von dicken Wolken verhangen, der Mond nirgendwo zu sehen. Der Wind, der über die letzten Stunden stetig an Kraft zugenommen hatte, peitschte die Wellen unbarmherzig vor sich her und klatschte sie mit voller Wucht gegen das Land und drohte, die Küste zu überfluten.
Schon längst hatten sich die Menschen in ihren Behausungen versteckt, um hinter dicken Mauern Schutz vor dem Wetter zu suchen. Der Einzige, der diesen Urgewalten stand hielt, war ein einsamer Turm, der direkt am Ufer stand. Tapfer widerstand er jedem neuen Angriff und stellte sich dem Sturm entgegen.
»Mich wirst du nicht klein kriegen.«, rief er ein ums andere Mal. »Ich werde jeden einzelnen meiner Stein meines Mauerwerks verteidigen. Du kannst an der Küste nagen, aber ich werde dir trotzen.
Eine neue Welle flutete heran. Sie war noch um einiges größer und höher als ihre Vorgänger. Laut krachte sie gegen den Turm und zerbarst zur allen Seiten. Dabei klatschte das Wasser sogar gegen das Fenster im Dach und drohte, die Schindeln wegzuspülen.
Nun bekam der Turm doch etwas Angst und war sich nicht mehr sicher, ob er diese Nacht heil überleben würde. Verzweifelt sah er sich um. Konnte er von irgendwo Hilfe herbei rufen?
In diesem Moment riss weit hinten am Horizont für einen kurzen Augenblick die Wolkendecke auf. Ein dünner Lichtstrahl des Mondes kam vom Himmel herab und brach sich für wenige Sekunden den Weg zur Meeresoberfläche hinab.
»Das ist es!«, rief der Turm. »Der Mond ist der Einzige, der mich retten kann. Wie kann ich ihn nur auf mich aufmerksam machen?«
Die Gedanken des Turms rasten durch sein Dach. »Ich muss dafür sorgen, dass er mich in Dunkelheit und Sturm sehen kann.«
Das Einzige, was helfen konnte, war ein helles Licht. Der Turm versuchte, sich nach links und rechts zu drehen, winkte verzweifelt den Wohnhäusern hinter sich. Irgendeiner der Menschen musste das doch bemerken.
Nach zweifelten Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, kam tatsächlich einer von ihnen aus dem Haus.
»Schnell!«, rief der Turm. »Komm rein und mach ein helles Licht. Ich muss den Mond um Hilfe bitten.«
Der Mensch ließ sich nicht zweimal bitten und trat durch die Eingangstür. Er sammelte alle Lampen ein, die er finden konnte, stellte sie in das zum Meer gerichtete Fenster und entzündete sie. Das Glas des Fensters bündelte das Licht zu einem schmalen aber hellen Strahl, der über die Wellen hinweg schoss und am Horizont die Wolkendecke durchbrach.
Sekunden später rissen die Wolken auf. Der Mond kämpfte sich hindurch und sah die Gefahr, die der Küste und dem Turm drohten. Schnell nahm er seine ganze Kraft zusammen und zog das Wasser ein Stück vom Land weg.
Dem Sturm gefiel das gar nicht und er legte noch eine Schüppe drauf. Er blies mit allem was er hatte.
Der Mond verzog unter größter Anstrengung sein Gesicht, hielt die Wellen in Schach und brach schließlich deren Widerstand. Der Sturm gab auf und zog sich zurück. Das Land und der Turm waren in Sicherheit.
»Das war eine wirklich gute Idee.«, lobte der Mond den Turm. »Du solltest öfter ein Licht über das Meer aussenden. Damit könntest du den vielen Schiffen den Weg nach Hause weisen. Vielleicht muss ich dann nicht mehr so oft dabei zusehen, wie sie an gefährlichen Riffen zerschellen und untergehen.«

(c) 2021, Marco Wittler

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