1147. Die Raupengang

Raupengang

Dicke, schwarze Wolken hingen am Himmel und ließen nur noch wenig Licht zur Erde hinab. Der dichte Wald lag fast in Finsternis. Schon bald sollte der erste Regen in schweren Tropfen herab fallen. Kaum jemand wagte sich bei diesem Wetter vor die Tür. Lediglich eine Gruppe von zehn Raupen, die finster drein blickten, hielt sich im Schutz einer dicken Baumwurzel auf. Sie kauten unentwegt auf langen Grashalmen, trugen große Sonnenbrillen und dicke Lederjacken. Während sie vergorenen Blütennektar tranken, hielten sie beständig die nahe Waldwegkreuzung im Auge, warteten darauf, dass jemand hier vorbei kam.
Kurz bevor der Abend begann, kam tatsächlich jemand hier vorbei. Ein paar tattrige Raupenomis kamen mit ihren Rollatoren vorbei. Sie unterhielten sich über das Wetter, über ihre zahlreichen Wehwehchen und über die große Aufregung, sich endlich zu verpuppen. Sie waren sehr gespannt, in welche Art Schmetterling sie sich wohl verwandeln würden. Doch dann krochen die finsteren Typen unter der Baumwurzel hervor und versperrten den Weg.
»Rückt euer gesamtes Hab und Gut raus, sonst wird es euch übel ergehen.« Diese Drohung akzeptierte keinen Widerspruch. Es ging um Leben und Tod.
Die Omis begannen zu zittern. Was sollten sie den Rüpeln geben? Mehr als ihre Kriechhilfen besaßen sie doch gar nicht.
»Ihr rückt nichts raus? Dann ist euer Leben halt jetzt aus.«
Die Rüpel kamen näher, blickten grimmig drein. Sie würden kurzen Prozess machen.
Aber dann geschah alles ganz schnell. Von einem hohen Ast kam ein Specht herab, schnappte sich die Raupen und schluckte sie eine nach der anderen herunter. Mit einem lauten Rülpser flog er davon. Die Omis konnten unbescholten ihren Weg fortsetzen und weiter davon träumen, bald ein wunderschöner Schmetterling zu werden.

(c) 2021, Marco Wittler

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