1170 – Der kleine Nussknacker

Der kleine Nussknacker

Pünktlich zum ersten Dezember hatte Paula ihre kleine Wohnung weihnachtlich geschmückt. Auf dem Tisch stand der Adventskranz, dessen erste Kerze bereits einmal geleuchtet hatte. In jedem Fenster hingen Leuchtfiguren und der Wohnzimmerschrank war mit Tannengrün geschmückt, da der Platz für einen Weihnachtsbaum nicht ausreichte. Während aus der Küche der Duft der ersten Weihnachtsplätzchen verströmte, stellte Paula ihre letzten Dekorationen auf, ihre geliebte Nussknackerarmee, die sie vor einigen Jahren von ihrer Oma geerbt hatte. Die durften niemals fehlen, auch wenn es nicht gerade Wenige an der Zahl waren. Auf kleinen Beistelltischen, auf einer Kommode und der Fensterbank standen nun zwölf der Holzmänner mit ihren roten Uniformen, großen Mündern und langen, weißen Bärten.
Paula sah sich zufrieden um. So langsam kam sie in Weihnachtsstimmung. Fehlte nur noch der Schnee vor der Tür und ein gemütliches Plätzchen unter ihrer warmen Decke mit einem heißen Punsch in Händen.
Sie eilte in die Küche, holte das Gebäck aus dem Ofen und nahm sich ein paar von ihnen mit ins Wohnzimmer. Das war der Moment, in dem die Nussknacker ganz nervös wurden. Sie wussten ganz genau, dass sie nun zum Einsatz kommen würden. Nach erledigter Arbeit aß Paula immer die ersten Nüsse der Adventszeit. Sie griff nach einer Tasche mit Walnüssen und holte zwei Hände voll heraus.
»Hm, wer von euch darf die erste Nuss aufknacken?« Paula sah in die Runde und überlegte sich eine Reihenfolge. Es sollte doch keiner ihrer kleinen Helfer zu kurz kommen. Würde sie dem großen Nussknacker den Vorzug geben oder dem mit dem dicken Bauch, den sie alt Kind so sehr mochte? Vielleicht sollte es auch der werden, der einen falschen Bart trug und eigentlich eine Nussknackerfrau in Maskerade war.
Die kleine Holzarmee wartete ungeduldig auf den Moment der Entscheidung. Jede Figur wollte die Erste sein. Nur einer, der ganz kleine Nussknacker war jetzt schon enttäuscht. Er wurde oft übersehen. Auch traute man ihm gar nicht zu, die besonders großen und harten Nüsse öffnen zu können. Dazu kam, dass seine Kollegen ihn ständig aufzogen und ärgerten. Er zog sich in eine schattige Ecke zurück. Zu oft war er nämlich auch schon bei Paulas Weihnachtsfest von ihren Verwandten verschmäht und zur Seite geschoben worden, um den großen, kräftigen Nussknackern den Vorzug zu geben.
Paula sah sich um. »Wo steckst du denn nur?« Sie wusste genau, wo sie wen abgestellt hatte. Trotzdem konnte sie ihn nicht sofort finden. »Seltsam, ich könnte schwören, dich nicht in die Ecke gestellt zu haben.«
Und dann griff sie völlig unerwartet zum Kleinsten unter den Nussknackern, stellte ihn als Einzigen auf den Wohnzimmertisch neben den Adventskranz und knackte mit ihm die erste Walnuss. Stolz erfüllte seine Brust und er konnte sein Glück nicht fassen. Er gab sich mit seiner Aufgabe besonders viel Mühe. Er brauchte zwar zwei Anläufe, aber dann zerteilte er die Nuss in zwei perfekte Hälften.
»Weißt du was? Du machst dich eigentlich ganz gut hier. Du bleibst für den Rest des Advents da stehen und hilfst mir mit den Nüssen.«

(c) 2021, Marco Wittler


Image by succo from Pixabay

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*