Pauls große Erfindung
Es klingelte an der Haustür. Mama, die gerade im Wohnzimmer auf dem Sofa saß und ein Buch las, legte dieses zur Seite, ging in den Flur und öffnete. Paul, ihr Sohn stürmte herein, ließ seine Kindergartentasche fallen und warf seine Jacke an die Garderobe. Papa, der ihn abgeholt hatte, kam gar nicht so schnell hinterher.
»Ich habe keine Zeit.«, rief Paul. »Ich habe eine Menge zu tun. »Ich bin jetzt Erfinder und muss mich um meine neueste Idee kümmern.« Nachdem er seine Schuhe ordentlich im Regal verstaut hatte, nahm er die Tasche sorgsam in die Arme, flitzte in sein Kinderzimmer und warf die Tür ins Schloss. Danach herrschte Stille.
Mama sah Papa ganz verwirrt und fragend an. Der konnte aber auch nur mit den Schultern zucken. »Schau mich nicht so an. Mir hat er auch nichts erzählt. Er hat mich nur mindestens einmal in der Minute gebeten, schneller zu fahren, damit ihm seine Idee nicht wieder verloren geht. Ich habe zwar versucht, mehr zu erfahren, aber Paul sagte immer, das man erst über Erfindungen reden darf, wenn man damit fertig ist, damit sie niemand klauen und als seine eigene ausgeben kann.«
Nach und nach verging der Nachmittag. Von Paul war nicht viel zu sehen oder zu hören. Nur zum Essen verließ er sein Zimmer oder wenn er mal kurz zur Toilette gehen musste. Aber auch dann hüllte er sich in Schweigen. Es schien, dass er sogar in diesen kurzen Zeiten mit seinen Gedanken voll konzentriert bei seinem Projekt war und sich dabei nicht stören lassen wollte. »Das wird eine ganz große Sache.«, war das Einzige, was er dazu sagte und dann wieder in ein leises Gemurmel versank, das niemand verstehen konnte.
Mittlerweile war es Abend geworden. Das Essen war fast fertig vorbereitet, als Paul endlich wieder aus seinem Zimmer kam und einen Pappkarton auf den Tisch im Wohnzimmer stellte.
»Ich bin fertig.«, begann er zu erklären und setzte sich in Papas Sessel. »Ich habe heute im Kindergarten sehr viel nachgedacht. Es gab zwischen mehreren Kindern einen Streit um die Spielsachen. Ist euch schon mal aufgefallen, dass es welche gibt, die nur für Mädchen sind und andere nur für Jungs? Das ist doch nicht in Ordnung. Wer hat sich das überhaupt ausgedacht?«
Langsam öffnete Paul den Pappkarton. »Finn wollte heute mit einer Puppe spielen. Dafür wurde er nicht nur von den anderen Jungs ausgelacht, sondern auch von den Mädchen. Umgekehrt habe ich aber auch schon gesehen, wie Maria mit den Autos spielt. Das hat sie aber nur heimlich gemacht, damit es niemand mitbekommt. Das kann doch nicht sein, dass wir heimlich spielen müssen, um nicht ausgelacht zu werden. Deswegen habe ich mir etwas ausgedacht.«
Er holte eine Puppe aus dem Karton und setzte sie vor sich auf den Tisch. Gekleidet war sie in ein rosa Kleidchen und weißen Schühchen. »Wer damit spielen mag, soll das dürfen. Aber ich weiß auch, dass nicht jeder Rosa mag. Linas Lieblingsfarbe ist schwarz. Sie hat auch nur schwarze Sachen an. Rosa kann sie nicht leiden.«
Paul holte eine zweite Puppe aus dem Karton. Sie hatte eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt an. Man konnte genau sehen, dass Paul die Kleidung selbst gemacht hatte, trotzdem merkte man ihm an, wie ernst er seine Gedanken nahm. Zusätzlich hatte er die Haare kurz geschnitten. »Man sollte Spielzeug für jedes Kind und jeden Geschmack kaufen können. Bei Autos finde ich das auch wichtig.«
Paul holte ein paar Spielzeugautos aus dem Karton. Manche waren in Blau, in grau, in schwarz, ein paar hatte er rosa angemalt.
»Und dann ist da noch Ben. Der ist eigentlich ein Junge, sagte seine Mama, aber er hat mir mal gesagt, dass er gar nicht weiß, ob das wirklich so richtig für ihn ist, weil es sich nicht so anfühlt. An manchen Tagen ist er ein Ben, an anderen wäre er lieber eine Bella und manchmal beides gleichzeitig. Er kann das nicht mal selber richtig erklären. Aber dafür habe ich mir auch etwas ausgedacht.«
Paul griff ein weiteres Mal in die seinen Karton und holte ein Namensschild heraus. Darauf stand ganz oben Bella, darunter Ben und ganz unten Ben & Bella. Daneben befand sich ein beweglicher Pfeil.
»Wenn Ben das trägt, kann sofort jeder sehen, wie er sich gerade fühlt und kann den richtigen Namen für ihn benutzen. Übrigens ist er heute ein Benn, sonst hätte ich nicht er sondern sie gesagt.«
Während Paul seine Erfindungen wieder zurück in seinen Pappkarton legte, hatten Mama und Papa große Augen bekommen.
»Das ist einfach wunderbar.«, fand Mama irgendwann ihre Worte wieder. »Ich finde es toll, wie viele Gedanken du dir über die anderen Kinder gemacht hast und dass du euch allen das Leben mit deinen tollen Ideen erleichtern wird. Ich bin mir ganz sicher, dass Ben und Bella das sehr freuen wird.«
Paul strahlte stolz über das ganze Gesicht.
»Und du wenn du dir selbst nicht sicher bist, ob du Junge, ein Mädchen, beides oder etwas ganz anderes bist oder sein möchtest, können wir immer darüber reden.«
Paul nickte. »Danke Mama. Ich bin aber ganz glücklich, ein Paul zu sein.«
(c) 2022, Marco Wittler
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