1194. Im Berg lebt ein Drache

Im Berg lebt ein Drache

Dunkle Wolken hingen schon seit Wochen über dem Dorf. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich das Wetter an die düsteren Launen, Gedanken und Ängste der Einwohner angepasst hätte. Ob es wirklich so war, konnte natürlich niemand beantworten, aber hinter vorgehaltener Hand hatte so manch einer von ihnen diesen Gedanken ausgesprochen.
»So kann das nicht mehr weiter gehen.«, sagte irgendwann der Bürgermeister bei einer Sitzung des Dorfrates. »Unsere Einwohner sind mit den Nerven am Ende. Ich habe sogar schon Stimmen gehört, die davon sprachen, sich eine neue Heimat zu suchen. So weit dürfen wir es nicht kommen lassen.«
Aufgeregtes Gemurmel ging durch den Raum. Man fürchtete sofort, sich in ein verlassenes Geisterdorf zu verwandeln, das nur noch von den Mutigsten bewohnt wurde, während jeder Reisende einen großen Bogen darum machte.
»Wir müssen endlich aufhören, immer nur zu diskutieren. Wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen uns der Bedrohung stellen und ihr tapfer ins Auge blicken. Wir brauchen einen Freiwilligen, der sich dieser Aufgabe annimmt.«
Sofort verstummte das Gemurmel. Ein Freiwilliger war im Prinzip eine gute Idee. Freiwillig wollte sich dennoch niemand melden. Immerhin konnte man diese Aufgabe mit dem eigenen Leben bezahlen. Das wollte dann doch niemand im Dorfrat riskieren.
»Dann müssen wir eben jemanden bestimmen oder darauf hoffen, dass ein Dummer …« Der Bürgermeister brach kurz ab, dachte noch einmal darüber nach, was er sagen wollte und korrigierte sich. »… dass sich ein Held hierher verirrt, sich unserem Schicksal annimmt und die Lage entscheidend verbessert.«
Der Bürgermeister stand auf, wanderte zum Fenster und warf einen Blick nach draußen auf die staubige Straße. Gerade in diesem Moment kam ein Reiter des Weges, eindeutig ein Fremder. Sofort riss der Bürgermeister das Fenster auf.
»He, ihr dort unten. Wollt ihr euch einen Beutel Silberlinge verdienen? Ich habe das eine Aufgabe, die erledigt werden muss.«
Während sich nun auch die anderen Dorfräte von ihren Plätzen erhoben und nach draußen schauen wollten, blieb der Reiter stehen, kratzte sich am Kinn und überlegte.
»Kann ich den Beutel einmal sehen? Ich habe eigentlich nicht viel Zeit. Deswegen muss es sich schon lohnen.«
Schnell griff der Bürgermeister an seinen Gürtel, der die Hose davon abhielt, vom viel zu dicken Bauch zu rutschen und zog einen kleinen Lederbeutel. Diesen schüttelte er ein paar mal, um die darin enthaltenen Münzen erklingen zu lassen.
»Dieser hier soll eurer sein. Dafür müsst ihr nur die Höhle dort oben in den Bergen aufsuchen und ihren Bewohner für immer von hier verjagen oder aus dem Weg räumen. Das überlasse ich euch.«
Der Reiter dachte noch einmal nach und nickte schließlich. »Bis zum Sonnenuntergang werde ich wieder sein und meine Bezahlung abholen.« Er setzte seinen Ritt fort un verschwand schon bald in den Nebeln, die das Gebirge umgaben.
Viel war vom ansteigenden Pfad nicht zu erkennen. Das Wetter, die Nebel und die dichten Wolken machten es unmöglich, weiter als ein paar Meter weit sehen zu können. Glücklicherweise gab es weder Kreuzungen noch Abzweigungen. Der Reiter kam auf direktem Weg zum Eingang der Höhle. Am Ziel angekommen, stieg er aus dem Sattel und machte sein Pferd an einem alten, knorrigen Baumstamm fest. Langsam setzte ein einen Fuß vor den anderen, bis er ein paar Meter tief in der Höhle stand.
»Kommt heraus. Ich weiß, dass ich hier nicht allein bin. Zeigt euch. Wir haben zu reden.«
Zunächst blieb es still. Doch dann war ein Zittern im steinigen Boden zu spüren, dem ein Grollen folgte. Ein großer Körper schälte sich aus der Dunkelheit. Ein großes Ungetüm kam aus dem Inneren der Höhle und hielt auf den Reiter zu. Dieser blieb an Ort und Stelle.
»Ich komme gerade aus dem Dorf. Man fürchtet euch. Niemand traut sich auch nur in die Nähe des Gebirges. Viele Einwohner spielen bereits mit dem Gedanken, ihre Bleibe für immer zu verlassen. Ihr habt euer Ziel erreicht.«
Der Koloss kam näher. Nun war er als das zu erkennen, was er war, ein riesiger, mehrere Meter hoher Dinosaurier mit langem Hals und Schwanz. »Und sie denken tatsächlich, dass ich ein gefährlicher, Tod bringender Drache bin?«
Der Reiter nickte.
»Na endlich. Dann kann ich hier oben ein ruhiges und gemütliches Leben fühlen, ohne dass mir jemand nach dem Leben trachtet. Wir sehr habe ich mich danach gesehnt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich vor den Menschen im Dorf fürchte. Man sagt, sie würden Jagd auf Dinosaurier machen, um ihre Knochen in Museen auszustellen.«
Der Reiter lachte. So etwas konnte er sich nicht vorstellen. »Wir sollten den Dorfbewohnern aber noch einen Beweis liefern, dass ihr gefährlich seid. Sie brauchen einen Grund niemals ins Gebirge zu kommen.«
Er setzte sich auf den Boden, legte ein paar Äste und etwas Stroh übereinander und entzündete ein Feuer. Er machte ein paar Brandlöcher in seine Kleidung und stieg schließlich wieder auf sein Pferd.
»Lebt wohl. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, alter Freund.« Dann ritt er in schnellem Galopp zurück ins Tal und schrie immer wieder so laut und panisch er nur konnte.

»Was ist mit euch passiert?«, fragte der Bürgermeister entsetzt, als er den fast gebratenen Reiter vor sich sah.
»Was mit mir passiert ist? Ihr habt mich unwissend in die Fänge eines Drachen reiten lassen. Nur mit Mühe und Not bin ich seinem unbändigen Hunger entkommen, was ich von meinen Kleidern nicht behaupten kann. Die werdet ihr mir ersetzen.«
Der Bürgermeister knirschte mit den Zähnen. Aus dieser Sache würde er wohl nicht so günstig heraus kommen.
»Trotzdem habe ich für das Dorf einen Handel machen können. Der Drache wird euch verschonen und niemals auch nur in die Nähe eurer Heimat kommen, wenn ihr im Gegenzug um sein Gebirge einen großen Bogen macht.«
Die Augen des Bürgermeisters weiteten sich. Dieser Handel klang besser als alles, was er sich erträumt hatte.
»Ja, auf jeden Fall. Das Gebirge gehört dem Feuerspeier. Kein Mensch wird sich ihm nähern. Fest versprochen.«
Er warf dem Reiter den Beutel Silbermünzen zu und wollte sich gerade abwenden, als der andere gequält auf die Löcher in seiner Kleidung zeigte und das Gesicht verzog.
»Schon gut, hier habt ihr einen zweiten Beutel.«
»Ich habe schlimme Verbrennungen erlitten, um euren Dorfbewohnern das Leben zu retten. Die Narben werden mich ein Leben lang daran erinnern.«
Der Bürgermeister verdrehte die Augen und übergab einen dritten Beutel Silberlinge. »Jetzt ist es aber genug. Seht zu, dass ihr verschwindet. Ich habe noch einige wichtige Amtsgeschäfte zu erledigen.«
Der Reiter steckte das Silber ein, setzte sich in seinen Sattel und ritt langsam davon. Er freute sich bereits auf die anderen fünf Dörfer am Fuße des Gebirges, denen er davon berichten musste, mit dem gefährlichen Drachen einen Friedenshandel abgeschlossen zu haben.

(c) 2022, Marco Witttler


Bild von GraphicMama-team auf Pixabay

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