1350. Das Paultier

Das Paultier

Sabrina hockte auf dem Boden im Flur ihrer Wohnung und prüfte noch ein letztes Mal die Schnürsenkel ihrer Schuhe. Sie sollten sich nicht beim Laufen lösen. Pausen würden nur unnötig die gestoppte Zeit verschlechtern.
»Möchtest du nicht dein Faultier mitnehmen?«, fragte Sabrinas Mann, der hinter ihr stand. »Ich glaube, es möchte mal an die frische Luft. Die lange Reise im Paket war bestimmt anstrengend.«
Sabrina sah auf ihr neues Kuscheltier, dass sie am Vortag bekommen hatte und verzog den Mund. »Paule ist ein Faultier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit mir mithalten kann. Wenn er nicht eh schon nach dem ersten Schritt einschläft, wird er mich mächtig ausbremsen. Ich muss doch für den nächsten Marathon trainieren. Ich will eine neue Bestzeit schaffen.«
Ihr Mann sah sie an und lächelte. »Er hat mir aber schon versprochen, dass er sich Mühe geben wird.«
Sabrina seufzte. Sie nahm Paule entgegen, gab ihrem Mann einen Kuss und ging die Treppe hinunter. »Wenn er mich bremst, schicke ich ihn nach Hause.«
Und dann stand sie auf dem Gehweg vor dem Haus. Sie setzte Paule auf dem Boden ab, schaltete ihre Laufuhr ein und blickte auf ihren Begleiter hinab. »Sie zu, dass du an mir dran bleibst. Ich bin vielleicht nicht die Schnellste, aber schneller als ein Faultier bin ich allemal.«
Sabrina wollte los, als sie etwas irritierte. Hatte ihr das Kuschelfaultier etwa zugezwinkert? Sie schüttelte den Kopf und lief los.
Nach ein paar Metern blickte sie sich um. Paule war verschwunden. Hatte ihn jemand geklaut? Nein, dass konnte gar nicht sein. Es war sonst keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Was ging hier vor? Hatte ihr Mann das Faultier bereits wieder in die Wohnung geholt?
Sabrina lief weiter. Sie spürte sofort in ihren Beinen, dass sie heute ihren schnellsten Lauf schaffen würde. Sie lief den Berg, auf dem sie wohnte, hinab und bog um ein paar Ecken, bis sie am Bahnhof vorbei kam. Von hier an ging es immer an den Gleisen entlang.
Hinter sich hörte Sabrina ein lautes Hupen. Der Zug war losgefahren und würde sie jeden Moment überholen. Sie blickte kurz zur Seite. Beinahe wären ihr die Augen aus den Höhlen gefallen. Hinter einem der Fenster saß Paule und winkte ihr begeistert zu. In der anderen Hand hielt er einen Zettel. »Ich habe dir versprochen, mindestens so schnell zu sein wie du.« Paule grinste und hob einen zweiten Zettel hoch. »Beim nächsten Lauf zeige ich dir, wie schnell ich ohne Hilfe bin.« Dann war der Zug auch schon vorbei.
Sabrina blieb stehen, musste ein paar Mal tief Luft holen. Sie grinste breit und schüttelte den Kopf. »Du bist ein Paultier, wie es im Buche steht. Wir werden bestimmt noch ganz viel Spaß zusammen haben.«
Sie setzte ihren Lauf fort und freute sich schon darauf, mehr Zeit mit ihrem Paule zu verbringen.

(c) 2022, Marco Wittler

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