1400. Die Nacht der kleinen Geister

Die Nacht der kleinen Geister

Es war Nacht geworden. Über der kleinen Lichtung, die sich nah am Waldrand befand, funkelten unzählige Sterne. Ein laues Lüftchen wehte und versprach, dass in den nächsten Stunden alles nach Plan verlaufen würde.
Nach und nach versammelten sich dutzende Geister. Die meisten von ihnen blieben im Schatten der Bäume und beobachteten mit respektvollem Abstand das Treiben weniger Artgenossen. Lediglich dreizehn von ihnen schwebten bedächtig, fast andächtig von einem Löwenzahn zum nächsten. Die Blumen hatten schon vor einigen Tagen ihre Blüten verloren. Sie waren zu prächtigen Pusteblumen geworden, die ihre Samen der Welt präsentierten.
Zufrieden kamen die dreizehn Geister zusammen. Sie nickten sich zu. Alles war gut. Einer von ihnen wandte sich anschließend an die wartende Menge.
»Die Nacht, auf die wir ein Jahr lang gewartet haben, ist angebrochen. Schon bald können wir die Ernte einfahren. Sobald der Wind gewillt ist, etwas an Fahrt aufzunehmen, wird es geschehen. Die Samen der Pusteblumen werden ausgesandt, um neues Leben wachsen zu lassen. Es wird eine neue Generation Löwenzähne geben. Dazu trägt jede Blume einen einzelnen Samen, aus dem ein neuer, junger Geist entstehen wird. Unsere Gemeinschaft wird an diesem Tag größer. Also begrüßt unsere neuen Familienmitglieder.«
Der Geist hob beschwörend die Hände. Der Wind wurde augenblicklich stärker und pfiff deutlich hörbar durch die Bäume des Waldes auf die Lichtung zu. Die Löwenzähne begannen zu zittern. Erste Samen lösten sich und schwebten davon. Während die meisten auf dem Boden landeten, um gespannt auf den nächsten Regen zu warten. Andere wiederum wurden zu einem schemenhaften Nebel, der sich langsam verfestigte und in einen kleinen Geist verwandelte. Unter begeisterten Ohs, Ahs und vereinzelten Boohs wurden sie von der Gemeinschaft empfangen.
Der Wind flog hin und her, kreuz und quer. Nach und nach blies er gegen die Pusteblumen und schenkte den Geistern ihr Leben. Während sich die ersten von ihnen verschlafen die Augen reibten, schwebten andere schon zwischen den Bäumen her. Andere mussten noch darauf warten, geboren zu werden.
Ein Geist schien es damit besonders eilig zu haben. »Ich halte es nicht mehr aus. Das ist so unglaublich aufregend. Ich will sofort geboren werden.« Das aufgeregte Samenkorn blickte sich unruhig umher. Noch war der Wind nicht nah genug gekommen. Aber vielleicht konnte jemand anderes helfen. Es blickte flehend zu einer nahen Rose.
»Bitte, liebe Rose. Blase so fest du kannst gegen meine Blume. Bitte hilf mir, dass es schneller geht.«
Die Rose nickte. In all ihren Jahren war sie nie um Hilfe gebeten worden. Großer Stolz erfüllte sie. Sie holte tief Luft und blies, so fest sie nur konnte. Der nahe Brombeerbusch half sofort mit und machte großen Wangen.
»Was passiert denn da?« Einer der dreizehn Geister hörte ein Geräusch, dass nicht da sein durfte. Sofort fiel sein suchender Blick auf die Rose. »Nein! Nicht! Hör sofort auf zu pusten. Es wird ein Unglück geschehen.«
Der Geist schwebte zur Rose und dem Brombeerbusch, wollte sich zum Schutz zwischen sie und die Pusteblume stellen, aber es war bereits zu spät. Die Samen flogen davon und fanden ihre Plätze auf dem Boden der Lichtung. Einer von ihnen wurde zum Nebel, der aber unkontrolliert zu zittern begann. Er hatte Probleme, sich zu festigen, war sogar kurz darauf, sich ins Nichts zu verflüchtigen.
»Ich brauche dringend Hilfe!« Die anderen zwölf Geister schwebten herbei. Sie nahmen sich an den Händen, bildeten den Kreis der Dreizehn und murmelten Beschwörungsformeln. Der Nebel beruhigte und verfestigte sich. Ein kleines, erschöpftes Geistermädchen entstand. Die Gemeinschaft erschrak bei ihrem Anblick. Der Sprecher der Dreizehn schüttelte traurig den Kopf.
»Du warst zu ungeduldig. Du hast nicht auf den Wind gewartet. Du bist zu früh geboren und hattest nicht die nötige Zeit zu reifen.«
Das Geistermädchen sah sich, dann die anderen Geister an. Im Gegensatz zu ihren Artgenossen, hatte sie zwei kleine Beine und Füße, die unter dem weißen Laken hervor lugten. Es stand vorsichtig auf und taumelte unsicher. Es sprang in die Höhe, wollte sich zu den anderen gesellen, blieb aber am Boden.
»Du kannst leider noch nicht schweben. Deswegen besitzt du diese zwei Beine. Du wirst mehr Zeit als die anderen brauchen, um zu einem richtigen Geist zu reifen. Es tut mir so leid.«
Zwei Geister lösten sich aus dem Kreis, schwebten nieder und griffen vorsichtig nach dem Geistermädchen. Sie hoben sie in die Lüfte und brachten sie zum Geisterversteck.
»Wir werden uns trotzdem um dich kümmern, wie um jeden jungen Geist, denn du gehörst zu uns. Wir werden dich bei allem unterstützen, damit es dir gut geht.«
Der Sprecher überlegte. Er sah noch einmal zur Rose und den Brombeerbusch, mit denen das Unglück begonnen hatte. »Ich gebe dir den Namen Roselotte Brombeergeist. Ich glaube, das passt ganz gut zu dir. Er soll dich immer daran erinnern, dass Geduld eine wichtige Tugend ist und du nicht erzwingen kannst, was Zeit braucht.«
Roselotte sah den Geist mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. »Ihr sollt Lotti zu mir sagen.«
Der Sprecher seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wird noch eine spannende Zeit mit dir, Lotti.«
Im Flug griff er nach zwei rosafarbenen Blütenblättern, verknotete sie zu einer Schleife und setzte sie Lotti auf den Kopf. »Steht dir.«
Lotti fühlte vorsichtig, grinste und nickte. Jetzt hatte sie ihr eigenes Erkennungsmerkmal. Jetzt würde jeder auf ihre Schleife schauen und nicht auf die komischen Füße, die unter ihr baumelten.

(c) 2022, Marco Wittler

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