1401. Geisterhafte Füße

Geisterhafte Füße

Roselotte Brombeergeist saß mitten auf der der kleinen Waldlichtung im Gras. Um sie herum wogten die Äste der Bäume im Wind und das hohe Gras sah aus wie ein grünes Meer, über das immer wieder sanfte Wellen wogten.
Während die vielen Geister, die hier lebten, durch das Dickicht schwebten und immer die dicken Holzstämme durchdrangen, sah das kleiner Geistermädchen einfach nur zu.
»Was soll ich denn hier?«, beschwerte sie sich immer wieder. »Ich kann doch eh nicht mitmachen.«
Roselotte verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits wieder die älteren Geister, die ihr erklärten, bei ihrer Geburt zu ungeduldig gewesen zu sein. Sie hatte nicht lange genug reifen können. Deswegen blieb es ihr noch verwehrt, die Fähigkeiten eines Geistes zu nutzen.
»Du musst viel mehr üben als die anderen. Nur dann wirst du das alles lernen.«, äffte sie die anderen nach und verdrehte dabei dir Augen. »Warum muss ich denn überhaupt schweben lernen und wie man Sachen durchdringt? Wofür braucht man das? Ich kann auch gut zu Fuß durch die Welt marschieren.«
Roselotte sah an sich herab, bis ihr Blick an den großen Schuhen hängenblieb, in denen ihre Füße steckten.
Füße. Auch wenn Geister keine Füße besaßen und gut ohne sie zurecht kamen, mochte Roselotte ihre beiden. Sie machten sie einzigartig. »Wenn ich euch bisher auch nur zum Gehen und Wandern benutze, bin ich mir sicher, dass es noch viel mehr gibt, was wir gemeinsam machen können. Sollen mir doch die anderen gestohlen bleiben.«
Und trotzdem ging es dem kleinen Geistermädchen gar nicht gut. Sie saß immer abseits, gehörte einfach nicht dazu, obwohl sie es gern wollte.
»Hey, was ist dir?«, war plötzlich eine sanfte Stimme zu hören. »Geht es dir nicht gut?«
Roselotte sah sich um und stöhnte genervt. Sie hasste es, wenn sich die anderen Geister unsichtbar machten. Vor ihr wurde in der Dunkelheit des Waldes etwas sichtbar. Zwei kreisrunde, rote Flecken wurden sichtbar und dazwischen ein breiter, lächelnder Mund.
»Ich bin Suse. Magst du mit mir spielen? Ich fühle mich so schrecklich allein. Ich dachte mir, dass wir vielleicht Freundinnen sein könnten.«
Roselotte schnaubte. »Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich bin das ungeduldige Geistermädchen, dass es nicht abwarten konnte. Ich bin ein Geist, bin es aber auch wieder nicht.«
Nun wurde auch der Rest von Suse sichtbar. Sie war auch ein Geistermädchen, schwebte vor Roselotte und sah an sich herab.
»Du bist Roselotte Brombeergeist, ich weiß. Jeder kennt dich. Weißt du, ich war auch ein wenig ungeduldig.« Sie lachte leise. »Ich bin einfach von meiner Pusteblume gehüpft, bevor der Wind kam. Ich kann schweben, ich kann Sachen durchdringen, sogar unsichtbar machen kann ich mich. Aber …« Ihre Stimme wurde etwas leiser. »Aber ich habe trotzdem ein Paar Füße wie du. Wir sind also beide anders als die anderen.«
»Aber ich kann nichts. Ich sitze nur hier herum oder wandere auf und ab.«
Suse schwebte ein paar Runden um Roselotte herum. »Ich habe da eine tolle Idee. Lass uns etwas tun, dass kein anderer Geist machen kann.«
Sie nahm das andere Geistermädchen an die Hand und zog es hinter sich her, bis sie vor einer großen Pfütze standen.
»Los, probier es aus, Roselotte. Das macht Spaß.«
Roselotte verzog den Mund. »Nenn mich Lotti. Das ist mir lieber.« Sie sah auf die Pfütze herab. »Was soll ich denn machen?«
Suse lachte. »Spring rein. Das kann man nämlich nur mit Füßen machen.« Sie wartete nicht ab. Sie sprang und landete im Wasser, dass es nur so spritzte. Lotti sah sich um, überlegte und sprang ihr hinterher.
»Wahnsinn. Das macht wirklich mega Spaß. Wie können die anderen Geister nur ohne Füße leben? Die können niemals so viel Spaß wie wir haben.«
Suse nickte und sah Lotti begeistert zu, wie sie immer wieder in die Pfütze hüpfte, bis fast kein Wasser mehr in ihr war.
»Ich habe aber noch ein Spiel.« Suse griff mit der Hand hinter sich und zog ein kleines, rotes Papierboot an einer Leine hervor. Sie setzte es auf die nächste Pfütze und ließ es treiben. »Kapitän Suse lädt zur Kreuzfahrt. Alle Geister an Bord.«
Sie drückte Lotti ein zweites Boot in die Hand. Dann rannten sie gemeinsam immer wieder um das Wasser herum und lachten so laut, dass die anderen Geister verwundert zu ihnen herüber sahen.

(c) 2022, Marco Wittler

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