1405. In einer geheimen Welt oder „Papa, warum lieben Katzen Pappkartons?“ (Papa erklärt die Welt)

In einer geheimen Welt
oder »Papa, warum lieben Katzen Pappkartons?«

Es war ein wunderschöner, sonniger Sommertag. Sofie machte einen Spaziergang durch die Stadt. An ihrer rechten Hand hielt sie Papa fest, damit er sich nicht verlaufen konnte. Er hatte so ein unglaublich schlechten Orientierungssinn. Mal saßen sie am Ufer Flusses und schauten den Enten beim Schwimmen zu, mal aßen sie ein großes Eis.
Irgendwann blieb Sofie vor einem Haus stehen und blickte durch ein Fenster in das Innere. Dort lag ein geöffneter Pappkarton, in dem es sich eine Katze gemütlich gemacht hatte.
Papa, der sofort wusste, was als Nächstes geschehen würde, blieb geduldig stehen und wartete auf die Frage seiner Tochter.
Sofie sah ihn nachdenklich an. »Papa, warum lieben Katzen Pappkartons?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von Pappkartons. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein kleiner schwarzer Kater, dessen große Leidenschaft es war, den ganzen Tag durch die Wohnung und den Garten zu stromern. Er kannte zwar jede Ecke und jeden Winkel, trotzdem gab es immer wieder etwas Neues zu entdecken. Mal saß ein Vogel im Busch, dann gab es Fliegen zu verscheuchen oder er sah dem Hund der Nachbarn heimlich beim Bellen zu. Die größte Leidenschaft des Katers war allerdings etwas ganz anderes. Er konnte stundenlang in der Abstellkammer in einem alten Pappkarton liegen und schlafen. So dachten zumindest die Menschen.
Eines schönen Tages war ein Menschenkind auf der Suche nach dem Kater. Er hörte nicht auf laute Rufe und reagierte nicht auf seinen Namen. Er kam einfach nicht.
»Katerchen? Wo steckst du denn? Warum kommst du nicht zu mir? Ich habe doch so ein tolles Leckerli für dich.«
Selbst die Erwähnung seiner Lieblingsspeise lockte ihn nicht aus seinem Versteck.
Das Menschenkind machte sich auf die Suche, lief von der Stube in die Küche, vom Bad zu den Kinder- und Schlafzimmern. Auch im Garten und im Keller war niemand zu finden. Zuletzt sah es in der Abstellkammer da. »Jetzt habe ich dich.«
Es hatte den Kater erwischt, wie er gerade in seinen Pappkarton sprang. Er wollte es sich wohl gerade gemütlich machen und schlafen. Doch dann geschah das Unglaubliche. Um das Tier herum entstand ein bunter Wirbel, der sich immer schneller drehte. Binnen weniger Sekunden wurde der Kater durchsichtig und verschwand.
»Was ist denn das?« Dem Menschenkind stockte vor Schreck der Atem. Es lief zum Karton, wollte hinein greifen. Seine Hand verschwand, ohne dass es einen Schmerz gab. »Was ist das für ein Wunderding?«
Das Menschenkind dachte nur kurz nach, bevor es den Kopf in den Wirbel steckte.
Wild zuckende Sterne tauchten vor seinen Augen auf, verzogen sich zu langen Strichen. Es war ein Gefühl, als flöge es mit unglaublicher Geschwindigkeit durch das All, bis es unsanft auf einer Wiese landete.
»Was ist passiert? Wo bin ich?«
Im Schatten saß der kleine Kater, las in einer Zeitung und hatte die Pfote in einer Schale mit Leckereien liegen, die er sich in den letzten Sekunden hatte schmecken lassen. Als er das Menschenkind sah, seufzte er und schüttelte den Kopf.
»Ich habe schon lange befürchtet, dass du mein Geheimnis entdecken wirst. Machen wir es kurz. Das hier ist mein Rückzugsort. Hier kann ich es mir gemütlich machen, naschen, lesen und einfach ich selbst sein. Jede Katze hat so einen Ort, an dem sie niemand findet.« Er seufzte ein zweites Mal. »Außer dir natürlich. Das bleibt aber unter uns. Du wirst es keiner Menschenseele erzählen. Haben wir uns verstanden?«
Das Menschenkind nickte, bevor es sich wieder auf den Rückweg machte. Es gönnte dem Kater sein Geheimnis.

»So eine geheime Welt im Pappkarton hat wirklich jede Katze?«, fragte Sofie und machte große Augen.«
Papa nickte. »Ich habe es selbst gesehen. Ich kenne nämlich diesen kleinen schwarzen Kater. Auf mehr möchte ich aber nicht eingehen. Ich kann nämlich ein Geheimnis für mich behalten.« Er zwinkerte und zog sanft an Sofies Hand. »Lass uns weiter gehen. Ich glaube, ich habe noch Lust auf ein zweites Eis.«
Seine Tochter nickte erfreut, begann dann aber zu lachen.
»Und trotzdem glaube ich dir von deiner Geschichte kein einziges Wort.«, flüsterte sie grinsend.

(c) 2022, Marco Wittler

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