1404. Geisterjäger

Geisterjäger

»Wenn ich es euch doch sage. Sie sind hier im Wald. Meine Frau hat einen von ihnen ganz genau gesehen.«
Während ein Mann vorne weg ging und den Wald zu beiden Seiten des Wegs pausenlos im Auge behielt, schüttelten die anderen beiden immer wieder den Kopf. »Es gibt sie wirklich. Geister sind real. Sie leben hier im Wald. In der Nacht kommen sie heraus, schweben ins Dorf hinab und sorgen für Angst und Schrecken. Das hat mir meine Frau gesagt.«
Bedrohlich hob er die Keule, die er in der Hand hielt, hoch über seinen Kopf. »Ich werde euch schon finden. Dann machen wir kurzen Prozess mit euch. Diese Welt ist zu klein für Menschen und Geister.
Seine Begleiter waren nur aus reiner Neugier mitgekommen. Sie hatten noch nie an Geister geglaubt und zweifelten deren Existenz an. Wenn die erwähnte Frau tatsächlich etwas gesehen hatte, handelte es sich wohl nur um einen Nebel oder um eine Pfütze, die im Sonnenlicht verdampfte. Sie wussten allerdings nicht, dass sie bei diesen Gedanken beobachtet wurden.
In der Krone eines Baumes hatten sich zwei Geister versteckt. Mit großer Sorge beobachteten sie die drei Menschen. Früher oder später würden sie zweifellos die Lichtung der Geister finden und für großen Ärger und Probleme sorgen. Sie mussten ihre Artgenossen warnen.
Auf der Lichtung wurde ein sofortiges Treffen einberufen. Aus allen Richtungen schwebten die Geister herbei und versammelten sich. Geduldig hörten sie dem Bericht zu und bekamen langsam Angst. Was würden die Menschen mit ihnen machen? Wie konnten sie sich schützen?
»Wir werden auf keinen Fall gegen die Menschen kämpfen. Wir dürfen der Gewalt nicht mit Gewalt begegnen. Denn damit würden wir einen ewigen Konflikt beginnen, der kein Ende finden wird, bevor nicht der Letzte von uns von der Erde getilgt wurde. Hat jemand eine Idee, was wir machen können?«
Es wurde still auf der Lichtung. Betretene Gesichter blickten zum Boden. Niemand konnte oder wollte einen Vorschlag machen. Da trat ein kleines Geistermädchen vor. Im Gegensatz zu den anderen Geistern konnte es nicht schweben, sondern bewegte sich auf zwei Beinen vorwärts.
Der Sprecher der Geistergemeinschaft seufzte. »Ja, Roselotte Brombeergeist, was möchtest du uns sagen? Ist es so wichtig, dass du unsere Versammlung störst?«
»Mein Name ist Lotti.«, antwortete sie verärgert. »Schaut euch um. Wir haben die Lösung vor unseren eigenen Augen. Wir müssen sie nur in die Tat umsetzen.«
Die anwesenden Geister sahen sich tatsächlich um. Die Verwirrung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Was hatte dieses kleine Geistermädchen vor? Das konnte keine richtige Idee sein.
Die drei Menschen sind wütend. Sie wollen Geister jagen und bekämpfen. Also geben wir ihnen, was sie wollen. Danach haben wir wieder unsere Ruhe.«
Lotti ging auf einen Baum zu und legte ihre Hand darauf. »Wir werden ihn fällen. Danach teilen wir ihn in mehrere Stücke und schnitzen Holzgeister daraus. Mit den Fähigkeiten alter Geister solltet ihr das im Handumdrehen schaffen.«
Es wurde in der Versammlung gemurmelt und diskutiert. Die Idee klang gar nicht so schlecht. Vielleicht würde es funktionieren. Es hatte eh niemand anderes etwas Besseres entgegenzusetzen.
»Ich hätte niemals gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber es ist wohl beschlossene Sache. Wir werden uns Roselo…« Der Sprecher der Geistergemeinschaft räusperte sich. »… Lottis Idee umsetzen.«
Sofort machten sich die größten und stärksten Geister an die Arbeit. Sie fällten den Baum, hackten ihn in Stücke und schnitzten daraus sehr echt aussehende Geister, die sie mit Birkenrinde abdeckten, damit sie die perfekte Farbe bekamen.
Kaum war das Werk beendet, versteckten sich die echten Geister und die Menschen kamen auf die Lichtung.
»Da! Da sind sie! Ich habe es euch doch gesagt. Es gibt Geister. Schnappt sie euch und bringt sie um!«
Die drei Männer entzündeten Fackeln, rannten auf die Lichtung und setzten die Holzfiguren in Brand. Dass sich ihre Gegner dabei nicht rührten, fiel ihnen gar nicht auf.
»Das war es. Jetzt werden nie wieder Geister unser Dorf überfallen. Wir haben gesiegt.«
Die Männer machten sich auf den Rückweg. Kurz darauf kam Lotti auf die Lichtung und sah sich an, wie schrecklich die Holzgeister zugerichtet waren. »Ihr habt Recht.«, murmelte sie. »Geister werden tatsächlich niemals euer Dorf überfallen. Das haben wir auch in der Vergangenheit nie getan und hatten es auch nie vor. In einer Sache habt ihr aber auch Unrecht. Ihr habt nicht gegen uns gewonnen. Wir haben euch überlistet.«

(c) 2022, Marco Wittler

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