Klingenschleifer
Er stand am Fenster und warf unruhige Blicke nach draußen. Wenn das Kreuzchen im Kalender nicht log, war heute der Tag, auf den er seit Monaten schon wartete. Praktisch jeden Moment konnte der andere die Straße entlang kommen.
Immer wieder wanderte er im Zimmer hin und her, bewegte sich im Kreis und sah wieder raus. Wann nur? Wann?
Als ein lautes Scheppern ertönte, riss es ihn aus seinen schweren Gedanken. Endlich war der andere gekommen. Mitten auf dem Marktplatz hielt er mit seiner Kutsche an und machte die Pferde am Brunnen fest. Der Händler war endlich in der Stadt.
Der Mann am Fenster konnte seine Aufregung kaum im Zaum halten. Er zog sich die alte Jacke über und stürmte nach draußen. Auf dem Absatz machte er noch einmal kehrt. Er hatte das wichtigste vergessen. Also noch einmal zurück ins Haus und das große Lederfutteral geholt, mit dem er sich auf den kurzen Weg zum Marktplatz machte.
Nur ein paar wenige Menschen hatten sich hier eingefunden. Sehr gut. Er würde also nicht zu lange warten müssen. Schon nach ein paar Minuten kam er auch schon an die Reihe. Zwischen unzähligen Töpfen und Pfannen, die im Wind schaukelten und immer wieder aneinanderstießen, saß der Händler, der lässig auf der nicht angezündeten Zigarre kaute.
»Haltet ihr Euch immer noch daran? Ihr raucht nicht mehr?«
Der Händler blickte auf die Zigarre nieder und schüttelte den Kopf. »Die Dinger sind wie die Pest. Nicht gut für die Gesundheit. Ich möchte schließlich noch eine ganze Weile keine Bekanntschaft mit dem Tod schließen.« Er lachte laut auf, hielt sich den Bauch und zwinkerte dem anderen zu. »Der wird mich eh nicht so bald holen. Wir haben einen Handel gemacht.«
Der andere nahm das Futteral von der Schulter und nickte. »Ich weiß.« Er öffnete es und holte eine lange Sense hervor. »Die Klinge muss dringend geschärft werden. Sie schneidet nicht mehr. Dabei hätte ich dringende Arbeit zu erledigen.«
Der Händler sah prüfend auf die Sense und nahm sie entgegen. »Dauert nur kurz.« Er ging zum Schleifstein, drehte ihn mit Fußkraft und hielt die Klinge ein paar Sekunden dagegen. Funken sprühten. Dann beendete er seine Arbeit, indem er sich ein Haar ausriss und auf die Klinge fallen ließ. Es wurde der Länge nach in zwei Teile geschnitten.
»Ich danke Euch. Was bin ich Euch schuldig?«
Der Händler überlegte nicht lange. »Ein weiteres Jahr auf Gottes schöner Erde, bis wir uns wiedersehen und ein weiterer Handel ansteht.«
Der Tod nickte. Noch einmal prüfte er selbst die Schärfe seiner Sense, bevor er die große Kapuze seines schwarzen Umhangs aufsetzte. Er ließ sein wichtigstes Werkzeug ein paar Mal durch die Luft sausen, zerschnitt mit ihr sogar den Holzgriff einer Pfanne. Erst dann machte er sich auf den Weg. In der Stadt waren einige Lebensuhren überfällig.
(c) 2022, Marco Wittler
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