1422. Es lebt!

Es lebt!

Doktor Frankenstein betrat mit seinem Assistenten Igor das Labor im Keller. Der kurze Blick in die Höhe, der durch einen langen Schacht bis hinauf zum gläsernen Dach ging, ließ ihn lächeln.
»Heute ist die Nacht der Nächte, Igor. Endlich ist es so weit. Das seit Wochen erhoffte Gewitter zieht auf. Es wird uns die benötigten 1.21 Gigawatt Leistung bringen, die wir für unser Experiment brauchen. Bring uns raus!«
Igor lachte leise. Er legte den großen Schalter um. Der Boden setzte sich knarzend und zitternd in Bewegung. Langsam fuhren sie mit dem Labor nach oben, während sich das Dach öffnete.
Frankenstein baute die Antennen auf und richtete sie auf das Gewitter aus. Jetzt mussten sie nur noch einen Blitz einfangen.
Das Unwetter kam näher. Mit einem lauten Knall fuhr ein Blitz hernieder und ließ die beiden Männer für einen kurzen Augenblick erblinden. Der Doktor riss sich die Schutzbrille vom Gesicht und ging zum Tisch. Er zog das vom Regen völlig durchnässte Laken herunter. Die Kreatur, an der er so lange gearbeitet hatte, die er aus den Körperteilen mehrerer Verstorbener zusammengenäht hatte, zitterte. Die Augenlider flatterten, die Augäpfel rotierten unruhig hin und her. Das Wesen bäumte sich plötzlich auf und schrie in die Nacht hinaus, dass man es auch im nahen Dorf hätte hören können, wenn nicht zeitgleich erneut der Donner gegrollt hätte.
»Es lebt!« Frankenstein jubelte. »Schau es dir an, Igor! Es lebt! Ich habe es geschafft. Ich bin ein Genie. Ich habe neues Leben aus dem Tod erschaffen.«
Er sank in sich zusammen, hielt sich die Hände vor sein Gesicht. Die Tränen der Freude ließen sich nicht mehr länger aufhalten. Alle seine Studienkollegen hatten ihn für verrückt erklärt, doch nun konnte er es ihnen zeigen. Er war nicht der durchgeknallte Wissenschaftler, wie sie ihn alle bezeichneten. Niemand würde ihn mehr auslachen.
Die Kreatur stand auf. Mühsam kletterte sie vom Tisch und ging stampfend auf ihren Schöpfer zu. Sie griff ihn am Laborkittel und hob ihn langsam hoch, bis es ihm in die Augen blicken konnte. Das grimmige Gesicht machte Frankenstein Angst. Hatte er etwa ein Monster erschaffen? Würde es ihn nun in Stücke reißen und sich dann das Dorf vornehmen?
Die Kreatur wurde rot im Gesicht und blickte ihn verschämt an. »Papa helfen?« Es sah ihn fragend an. »Hab Kaka gemacht.«
»Oh, verdammt, ja.« Frankenstein wedelte mit der Hand vor seiner Nase her. »Ich kann es riechen. Ich hatte gehofft, mir einen kräftigen Helfer zu erschaffen, aber es ist nur ein besonders kräftiges Baby geworden.«
Er sah sich verzweifelt um. »Igor, besorg mir schnell eine Packung Windeln in Größe XXL. Beeil dich.«

(c) 2022, Marco Wittler

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