1530. Der Drache kommt

Der Drache kommt

Ein Mark erschütternder Schrei durchbrach die Stille am schneebedeckten Gipfel. Kurz darauf schien der Boden unter den Füßen zu zittern. War das ein Erdbeben? Hatte sich eine Lawine gelöst, die nun krachend ins Tal stürzte?
Er sah auf seine Begleiter herab, für deren Schutz er sich verpflichtet hatte.
Das Kind blickte ihm sorgenvoll in die Augen und drückte das kleine, rosa Pelztier, dass es im Arm hielt, fest an sich. »Du musst keine Angst haben, kleiner Freund. Er wird uns schon helfen. Das verspreche ich dir.«
Es sah fragend wieder auf. Er nickte zur Bestätigung. Ein letztes Mal überprüfte er die Bindungen seiner Ski. Jetzt durfte nichts schief gehen.
»Er kommt. Es kann nur noch wenige Sekunden dauern.«
Erneut ertönte der Schrei, gefolgt von lautem Krachen.
Plötzlich wurden die Bäume des nahen Waldes zur Seite gedrückt, aus dem Boden gerissen und ihre Stämme zerbrochen. Aus der Dunkelheit der Abenddämmerung erhob sich ein mächtiger Schatten, der endlos scheinende Flügel ausbreitete. Der Drache riss sein Maul auf, spie eine riesige Flamme aus, die den Schnee um ihn herum in sekundenschnelle in einen See verwandelte.
»Endlich habe ich euch gefunden. Endlich kann ich mich rächen.« Auf den Untier saß ihr Verfolger, der sie mit rot glühenden Augen zu durchbohren schien.
Die Gefundenen erschraken, obwohl sie die ganze Zeit gewusst hatten, dass diese Begegnung irgendwann hatte stattfinden müssen.
»Jetzt!« Das Kind klopfte mit der Hand gegen den Schenkel des Begleiters, der sofort seine Stöcke in den vereisten Boden rammte und sich abstieß. Zu dritt nahmen sie Fahrt auf, rasten den Berg hinab, schlugen immer wieder Haken und versuchten, zu entkommen.
Der Drache ließ seinen donnernden Kampfesschrei ertönen, schlug kräftig mit den Flügeln und heftete sich an die Fersen der Flüchtenden. Trotz seiner Größe und seinem Gewicht, umkurvte er die Felsen und Bäume wie eine geschickte Schlange. »Ihr könnt mir nicht entkommen. Ich werde euch kriegen und obsiegen.« Dennoch gaben die beiden Menschen und ihr felliger Begleiter nicht auf.
Die Skie rumpelten über Eisplatten und Steine. Immer wieder liefen sie Gefahr schwer zu stürzen. Sie nahmen jedes Risiko in Kauf. Sie mussten es nur ins Tal schaffen.
Flammen züngelten mal auf der einen, mal auf der anderen Seite an ihnen vorbei. Die Hitze des Feuers war deutlich spürbar und trieb ihnen den Schweiß aus allen Poren.
Hinter der nächsten Kurve kamen Lichter in Sicht. Es waren nur noch wenige Meter. Das Kind blickte ein erstes Mal zurück. Der Drache war nur mehr wenige Schritte entfernt. »Er kommt. Er wird es schaffen. Wir müssen schneller machen.«
Doch dann fuhren sie bereits über die rote Linie, die kurz zuvor auf den Boden gesprüht worden war.
Sie bremsten in einer scharfen Kurve. Schnee wurde in einer großen Wolke aufgewirbelt, in der sich das fahle Licht des Mondes wie in unzähligen Diamanten brach.
Das Kind sprang herab, setzte sein Tierchen auf den Boden. Zu dritt rissen sie die Arme hoch und jubelten laut, während der Drache langsam neben ihnen aufsetzte und seinen Herrn abspringen ließ.
»Verdammt! Ihr habt schon wieder gewonnen. Wie macht ihr das nur? Ich dachte, dass ich mit einem Drachen unbesiegbar wäre.« Er seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch das volle Haar. »Ich lasse mir etwas Neues einfallen. Das nächste Abfahrtsrennen werde ich gewinnen.«

(c) 2023, Marco Wittler

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