1529. Roselotte Brombeergeist und die grüne Frida

Roselotte Brombeergeist und die grüne Frida

Es war Nacht geworden. Im großen Wald war es so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen halten konnte. Doch dann riss langsam die Wolkendecke auf und unzählige Sterne tauchten auf. Schon bald würde auch der Mond am Firmament auftauchen.
Kurz nach Mitternacht, zu Beginn der Geisterstunde, traf ein erster Lichtstrahl eine kleine Lichtung. Er streifte eine hoch aufgerichtete Blume, die kurz darauf ihre große, weiße Blüte öffnete.
Ein lautes Gähnen ertönte. Zwei kleine Arme wurden in die Höhe gestreckt. Ihnen folgte ein kleines Geistermädchen, dass eine rosa Schleife auf dem Kopf trug.
Roselotte Brombeergeist stand auf, kletterte vorsichtig am Blumenstengel herab und spazierte mit ihren schweren Stiefeln durch die Wiese. Sie wunderte sich, denn irgendwas stimmte in dieser Nacht nicht.
»Moment mal. Wo sind denn die anderen?« Sie war als einzige vom Mondlicht geweckt worden. Die anderen neunundneunzig Blumen hatten sich nicht geöffnet. »Hat der Mond was Besonderes mit mir vor?«
Aber nein. Der Mond war noch gar nicht zu sehen. Er war spät dran, war noch nicht über den Horizont gekommen. »Welches Licht hat mich denn dann aufgeweckt?«
Roselotte sah sich um und entdeckte einen grünlichen Schimmer, der sich hinter einem Baum versteckte. »Ich weiß nicht, wer du bist, aber du kannst herauskommen. Ich werde dir nichts tun.«
Es dauerte ein paar Augenblicke, aber dann kam ein anderer Geist zum Vorschein. Doch statt des gewohnten weiß, leuchtete er in einem kräftigen Grün. »Ich bin Frida.«, sagte Frida unsicher. »Und wer bist du?«
»Ich bin Roselotte Brombeergeist, aber du darfst mich Lotti nennen.« Sie hob einen Fuß, zeigte auf den Stiefel, in dem er steckte und grinste schief. »Ich bin zu früh geboren worden. Ich kann nicht schweben und nicht durch Wände gehen. Aber das ist mir egal.« Sie musterte Frida von oben bis unten. »Und warum bist du so grün?«
Nun war es Frida, die den Mund verzog. »Das ist eine völlig verrückte Geschichte. Ich bin nämlich ein sicheres Versteck. Wenn ich dir das erzähle, wirst du mir kein Wort glauben.«
Roselotte bekam große Augen. »Das musst du mir unbedingt erzählen.«
Sie setzten sich auf einen alten, modrigen Baumstamm. Frida sah sich um. »Uns kann sonst niemand hören?«
»Niiiiiemand. Alle anderen Geister schlafen tief und fest in ihren Blumen.«
Frida nickte zufrieden. »Ich bin eigentlich ein Burggeist und lebe in einem alten, halb verfallenen Gemäuer auf dem Hügel nahe der Stadt.
Vor ein paar Nächten habe ich ein seltsames Geräusch im Burggraben gehört. Neugierig bin ich durch das Fenster nach unten geschwebt, um nach dem Rechten zu schauen. Da entdeckte ich mehrere kleine, grüne Lichter, die über das Wasser und die Wiese am Ufer schwebten. Ich war verwirrt, hatte ich doch noch nie fliegende Lichter gesehen.
Und plötzlich schoss ein großer Klumpen hervor, riss sein Maul auf und warf den Lichtern seine ewig lange Zunge hinterher. Ein Frosch. Er versuchte, die Lichter anzulocken. Er nannte sie leckere Glühwürmchen. Eines erwischte er, verschlang es und begann dann selbst zu leuchten. Wäre das alles nicht so dramatisch gewesen, hätte ich laut lachen müssen.«
Lotti schluckte schwer. »Das arme Glühwürmchen. Hoffentlich hat er die anderen nicht auch noch gefressen.«
Frida grinste breit, hob den Stoff ihres Körpers an und gab die Sicht auf fünf Glühwürmchen frei, die dort im Kreis flogen. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich ein Versteck bin. Meine neuen Freunde lassen mich so toll leuchten.« Sie ließ den Stoff wieder fallen. »Das ist der Grund für mein grünes Licht.«
Lotti war begeistert. »Das ist eine tolle Geschichte. Ich finde es super, dass du den Kleinen und Wehrlosen hilfst. Aber was ist mit dem sechsten Glühwürmchen? Können wir es nicht retten?«
Frida schüttelte den Kopf. »Der Frosch ist viel zu schnell. Allein habe ich das nicht geschafft.«
Lotti griff nach Fridas Hand, zog sie hinter sich her. »Dann erledigen wir das eben gemeinsam.«
Sie machten sich auf den Weg. Mal zog Roselotte ihre neue Freundin auf dem Boden hinter sich her, mal schwebte Frida mit ihr durch die Lüfte. Sie hielten nicht eher an, bis sie die alte Burg erreicht hatten.
»Ich habe eine Idee.« Sie teilten sich auf. Lotti wartete auf der einen Seite der Uferwiese, Frida auf der Anderen. Schon entdeckten sie den Frosch. Roselotte zog einen ihrer Stiefel aus, warf ihn durch die Luft. Er landete raschelnd im Gras.
Sofort sprang der Frosch auf. In der Hoffnung auf einen Mitternachtssnack, machte er sich auf die Suche.
»Angriff!« Frida sprang auf. Lotti kam von der anderen Seite. Sie stürzten sich auf den leuchtenden Frosch. Der war so überrascht, dass er sein Maul aufriss, um Hilfe schrie und so unabsichtlich einen Fluchtweg öffnete. Das verschluckte Glühwürmchen flog ins Freie und suchte sofort Schutz unter Fridas Stoff, der nun noch intensiver leuchtete.
»Wir sind ein tolles Team, Lotti.«
»Das stimmt, Frida.«
Die Geistermädchen klatschten sich ab. Sie kehrten zurück zur Lichtung im Wald und schliefen gemeinsam in Lottis Blumenblüte ein.

(c) 2023, Marco Wittler

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