Karl die Krabbe
Krabbe Karl stolzierte auf seinen acht Beinen gemächlich über den Meeresgrund, der wenige Meter unter Wasser in der nähe des Strandes befand. Alle paar Schritte blieb er stehen und besah sich den Sand. Hatte sich nicht irgendwo eine schmackhafte Muschel versteckt, die sich als Abendessen anbieten könnte?
Er stach kurz mit einem Bein in die Tiefe. Nein. Wieder nichts. Also weiter. Ab zur nächsten Stelle. Dabei warf Karl immer wieder einen Blick über seine Schulter.
»Obacht!«, rief er sich selbst zu. »Ist gleich wieder so weit.« Er ließ sich nieder und verankerte sich mit den acht Beinen im Boden. Nur einen Lidschlag später rollte die nächste Welle heran und versuchte vergeblich, das kleine Tier mit sich zu reißen und aufs Trockene zu spülen. Dann wurde es wieder ruhig.
Karl befreite sich und begab sich erneut auf Nahrungssuche. Meter für Meter lief er vor Ufer entlang, Futter fand er allerdings keines. Jede Muschelschale, die er entdeckte, war bereits geplündert und leer.
Die nächste Welle rollte an. Die Krabbe machte sich wieder bereit. Sie wurde umspült, es wurde kräftig an ihr gezogen und gerissen. Bruchstücke von Muschelschalen kollidierten mit ihr. Alles wie immer. Und doch war da etwas anders.
Zwei riesig dunkle Schatten näherten sich aus den Tiefen des Meeres. Zwei Robben hatten die Ufernähe aufgesucht. Sie waren auf Beutejagd.
»Mensch, Roland, schau doch mal. Da liegt unsere Vorspeise.« Roland sah auf Karl hinab, der seinen Blick erwiderte.
»Mist!«, kam als leises Flüstern über die Lippen der Krabbe. »Wenn jetzt kein Wunder geschieht, ende ich auf der Speisekarte.«
Doch Roland tat nichts. Er lag wie erstarrt auf dem Sand. »Nee, Richard. Lass mal. Du kannst dir das Vieh selber schmecken lassen.« Er zeigte auf Karl und begann zu zittern. »Schau genau hin. Das ist Käpt’n Augenklappe, der gefürchtetste Pirat an den Küsten der sieben Weltmeere. Er kneift dir mit seinen Scheren die Nasenspitze ab, bevor du auch nur zucken kannst.«
Die Robben bekamen es mit der Angst zu tun, ergriffen die Flucht und verschwanden wieder im Meer, als wären sie nie hier gewesen.
»Diese Feiglinge!«, rief ihnen Karl hinterher. »Haben glatt Angst vor einer kleinen Krabbe. Was die aber mit diese Augenklappe gemeint haben, hab ich nicht verstanden.«
Während er sich wieder der Futtersuche zuwandt, strich er die Muschelscherbe aus dem Gesicht, die ihm seit der letzten Welle vor dem Auge hing.
(c) 2023, Marco Wittler
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