Die schwarze Prinzessin
Luca und Lou genossen ihren gemeinsamen freien Tag in der Stadt, saßen mal im Park auf der Wiese, mal am Flussufer. Sie quatschten, lachten gemeinsam und beobachteten Vögel und Insekten. Doch von einem Augenblick zum nächsten änderte sich diese Spätsommeridylle.
Dichte, graue Wolken zogen und ließen kaum noch Sonnenlicht zur Erde hindurch. Die angenehmen Temperaturen fielen deutlich ab. Kräftige Windböen trieben das gefallene Herbstlaub vor sich her. Spaziergänger schlossen ihre Mäntel und zogen die Mützen tiefer in ihre Gesichter.
Luca sah sich verwirrt um. Dass das Wetter so schnell umschlug, hatte es noch nie gegeben. »Was ist los? Was passiert denn hier?«
Lou nahm Luca an die Hand. »Komm schnell, bevor es zu spät ist. Wir müssen hier sofort verschwinden. Sie kommt.«
Luca legte die Stirn in Falten und sah sich verwirrt um. »Sie? Wer ist Sie?«
»Na, wer wohl? Die schwarze Prinzessin.« Lou hielt an, drehte sich um, zeigte mit der Hand in den Himmel. »Schau! Ihre Armee, die ihr knapp vorauseilt, ist schon da.« Ein dichter Schwarm Krähen und Raben näherte sich laut krächzend. »Es ist zu spät. Wir haben nicht mehr genug Zeit, es rechtzeitig nach Hause zu schaffen. Wir brauchen ein Versteck.«
Luca verstand noch immer nicht. Dass sie aber nicht länger auf offener Straße bleiben sollten, zeigte sich am Verhalten der anderen Spaziergänger. Sie waren ausnahmslos verschwunden.
Die Beiden eilten weiter, bis sie einen dichten Busch erreichten, hinter den sie sich hockten und hofften, nicht entdeckt zu werden.
Und dann war sie auch schon da. Von schwarz gefiederten Vögeln umringt, schritt eine Frau in einem langen, schwarzen Kleid an den Häusern vorbei.
»Es heißt, sie verwandelt Menschen nur durch ihren Blick in Raben und Krähen, die sie dann für den Rest ihres Lebens begleiten müssen. Schau weg, wenn nicht so enden willst.«
Während sich Lou die Hänge vor die Augen hielt, war Luca zu neugierig und beobachte, was geschah. Die schwarze Prinzessin griff immer wieder in einen Stoffbeutel, den sie an der Hüfte trug. Dann warf sie eine Hand voll Getreide auf den Boden, auf das sich die Vögel gierig stürzten.
Irgendwann blieb sie stehen. Vor der Tür eines Hauses, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, sah sie sich um. Sie fühlte sich unbeobachtet und allein.
»Was wird das? Was macht sie da? Kann sie die armen Leute nicht verschonen? Sie haben bestimmt schon genug Päckchen zu tragen.« Luca wollte aufspringen, sich einmischen, wurde aber von Lou am Arm gehalten. »Schau nicht hin. Tu mir das nicht an. Ich will dich nicht an sie verlieren.« Aber Luca konnte den Blick einfach nicht abwenden.
Die schwarze Prinzessin holte unter dem Saum ihres Kleides eine feste Tasche hervor. Sie blickte hinein. »Pass gut auf sie auf. Eure Lebenswege werden nun zu einem.« Sie stellte die Tasche ab. Kurz schienen ihre blassen Wangen rot zu glühen. Dann setzte sie ihren Weg fort. Ein letztes Mal sah sie sich um. Ihr Blick streifte den von Luca. Sie lächelte, zwinkerte und verschwand mit ihren Vögeln um die nächste Ecke.
Luca betastete sich erschrocken. Alles war noch so, wie es sein sollte. Auch wuchsen nirgendwo Federn oder ein Schnabel. »Puh. Für einen Moment hatte ich echt große Angst.«
Der Spuk schien vorbei zu sein. Der Wind ebbte ab, die Wolken verflogen, als wären sie nie da gewesen. Der Sommer kehrte noch einmal zurück.
»Wenn ich doch nur wüsste, was sie da getan hat.« Die Antwort ließ sich nicht lange auf sich warten. Die Tür des alten Hauses öffnete sich. Eine alte, traurig wirkende Frau blickte vorsichtig heraus. Als sie die Tasche sah, klärten sich ihre Augen. Es schien, als würde sie Tränen wegwischen, die schon lang geflossen waren.
»Wo kommst du denn her, du kleines Wunder?« Sie befreite ein kleines, schwarzes Kätzchen, dass sich schnurrend an sie schmiegte. »Komm mit rein. Ich gebe dir gleich etwas zu futtern. Jetzt wird für uns beide alles gut.« Mit einem Lächeln, dass schon viel zu lang nicht mehr in diesem alten Gesicht gesehen wurde, verschwand die Alte im Haus.
»Das wirst du niemals glauben.« Luca nahm Lou an die Hand, wollte ihr zeigen, was gerade geschehen war. Aber dafür war es nun zu spät.
»Natürlich werde ich dir das niemals glauben. Wie konntest du nur dein Leben und unsere Freundschaft so aufs Spiel setzen. Wie gut, dass dich die schwarze Prinzessin nicht gesehen hat. Das machst nicht noch einmal mit mir.«
(c) 2023, Marco Wittler
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