1544. Little Santa Claus

Little Santa Claus

In den letzten Tagen war es kalt geworden. Erste Eiskristalle hatten sich an den Grashalmen gebildet, die über Pfützen hingen oder an Bachufern wuchsen. Mittlerweile hatten sich dicke, graue Wolken am Himmel versammelt, die wie auf ein geheimes Kommando gemeinsam ihre Schleusen öffneten und unzählige Schneeflocken zur Erde fallen ließen. Langsam färbte sich alles weiß, als hätte jemand eine dicke Decke über das Land gelegt.
Zu dieser Zeit knisterte in einer kleinen Stube der Kamin und auf dem Ofen blubberte kochendes Wasser für einen leckeren, heißen Tee. Am Fenster saß ein Marienkäfer, der seine Tasse fast leer getrunken hatte und sich schon auf die nächste freute. »Bei diesem Wetter gibt es nichts Schöneres, als in der Stube zu sitzen, süßen Tee zu trinken und nach draußen zu schauen. Ich liebe den wilden Tanz der Schneeflocken. Sie wirken so frei und unbeschwert, als ob sie nicht wüssten, dass ihr Leben schon beim nächsten Sonnenstrahl enden wird.«
Der Marienkäfer legte die Stirn in Falten. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter, wenn er nur daran dachte, dass ihn unterwegs ein großer Vogel fressen würde oder dass er von einem Regentropfen erwischt und darin ertrinken könnte. »Manchmal ist es ganz gut, wenn man über solche Dinge nicht Bescheid weiß.«
Wieder konzentrierte er sich auf das Schneetreiben. »Das ist der perfekte Moment, um mit einem riesigen Schlitten durch die Lüfte zu gleiten und Menschenkinder zu beschenken.«
Natürlich hatte der Marienkäfer schon von Santa Claus gehört, dem dicken, bärtigen Mann, der jedes zu Weihnachten vom Nordpol kam, um die braven Kinder zu überraschen. »Und die nicht so braven Kinder …«, der Käfer kicherte. »… die werden bestimmt auch beschenkt. Immerhin ist es Weihnachten. Da sollte niemand traurig sein.«
Er liebte diese Jahreszeit. Und er liebte es, darüber nachzudenken, was die Menschen geschenkt bekamen und wie Santa Claus um die ganze Welt reiste. »Wie gern würde ich ihn einmal bei seiner Reise begleiten. Aber ich weiß nicht, wie ich zu ihm zum Nordpol kommen soll, und Santa wird nicht wissen, dass ich überhaupt existiere. Ich bin eben nur ein kleiner Marienkäfer. Toll wäre es trotzdem.«
In diesem Moment begann der Kessel auf dem Herd zu pfeifen. Das Wasser war heiß genug. Der Käfer folgte dem Geräusch, goss sich einen neuen Tee auf und machte es sich erneut im Sessel gemütlich. Dort faltete er seine Hände auf seinem Bauch und schloss für einen Augenblick die Augen. Er stellte sich vor, in einem roten Mantel zu stecken, sich über den langen Bart zu streichen und ein lautes Ho, ho, ho in den Wald hinein zu rufen. Bei diesen Gedanken schlief er mit einem breiten Lächeln auf den Lippen ein und begann zu schnarchen.
Nach einer Weile schreckte der Marienkäfer aus seinem Schlaf wieder hoch und sah sich um. »Verdammt! Ich hab den Tee und den Ofen vergessen.« Er schaute sich um. Der Tee stand kalt neben ihm auf dem Tisch. Bei einem Blick in die Küche, kam die Erleichterung. Der Ofen war aus. »Puh. Nicht, dass mir noch mein Heim abbrennt.«
Nun nahm sich der Käfer die Zeit, sich die Augen zu reiben. Er sah nach draußen. Mittlerweile lag eine so dicke Schneeschicht auf der Welt, dass das Weiß alle anderen Farben verdeckte. Flocken fielen allerdings nicht mehr.
»Ich sollte an die frische Luft gehen. Die wird mich wieder munter machen.«
Der Käfer zog sich Stiefel und Handschuhe an, legte einen warmen Schal um den Hals und setzte sich eine warme Mütze auf den Kopf. Dann verließ er sein Heim und flog in die Winterlandschaft hinaus. Wieder musste er daran denken, wie viel Spaß Santa Claus bei diesem Wetter haben musste.
Der Marienkäfer verfiel so tief in seine Überlegungen, dass er den Ast vor sich übersah und beim Fliegen dagegen stieß. »Autsch! Aua! Das tut weh.« Er fiel, krachte dabei gegen mehrere Zweige, die dadurch vom Schnee befreit wurden, bis er so weich landete, als hätte ihn eine Wolke aufgefangen.
Überrascht tastete der Käfer um sich herum. »Das ist Baumwolle. Dieser Strauch hat im Herbst vergessen, sie abzuwerfen. Was für ein Glück.« Der Käfer begann zu grinsen. »Was für ein riesiges Glück.« Er rupfte ein Büschel der weißen Fasern ab und pappte sie sich ins Gesicht. »Ho, ho, ho.«, rief er so laut, dass es bestimmt noch am anderen Ende des Waldes zu hören war. »Ich bin Little Santa Claus und beschenke alle kleinen Tiere, die dieses Jahr artig waren.« Er hielt sich wieder den Bauch und lachte über sich selbst.
Doch dann wurde er leiser und langsam ernster. Er blickte auf sich herab. Seine Flügelklappen waren rot, seine Mütze ebenfalls. Er hatte große, schwarze Stiefel an den Füßen und einen falschen Bart im Gesicht. »Aber es ist immerhin Bart. Was wäre denn, wenn ich wirklich Little Santa Claus bin? Was sollte mich denn davon abhalten?«
Er rappelte sich wieder auf und flog los. Das perfekte Kostüm hatte er gefunden. Jetzt musste er noch die restliche Ausstattung finden. Auf seinem Weg sammelte er die Schale eine Walnuss auf, aus der man mit zwei kleinen Zweigen einen wunderbaren Schlitten bauen konnte.
Unter einer Baumrinde fand er acht Asseln, seine Freunde, mit denen er an warmen Sommertagen gemeinsam am Wasser saß und sie sich gegenseitig Geschichten erzählten. Aus ihnen machte er die Zugtiere. Der Käfer konnte sogar noch eine Himbeere finden, die noch nicht gefressen worden war. Von ihr nahm er eine einzelne Kugel und steckte diese auf die Nase einer Assel. »Du bist jetzt Little Rudolph und führst die anderen an.«
Während die Asseln vor dem Heim des Käfers das richtige Ziehen des Schlittens übten, holte Little Santa Claus Früchte des Herbstes aus seinem Vorrat. Darunter waren Nüsse, Bucheckern, kleine Beeren und Samenkörner. Alles Dinge, die die Tiere im Wald liebten und aßen. Er verpackte sie liebevoll in buntes Herbstlaub und band aus Grashalmen eine Schleife um jedes einzelne Geschenk. »Meine Nachbarn werden Augen machen. Das wird das beste Weihnachtsfest aller Zeiten.« Er kicherte leise vor sich hin. Es war auch das einzige, dass bisher im Wald gefeiert werden würden, denn sonst war es den Menschen vorbehalten. »Aber das wird sich nun ändern.«
Nach und nach schafft er die Geschenk auf seine Veranda, sortierte und stapelte sie dort. Ein paar verstaute er in einer roten Blumenblüte, die er als Santas Sack betitelte.
»Du wirst niemals ein Santa Claus werden, nicht einmal ein Kleiner.« Ein Rabe, der es sich auf einem nahen Ast gemütlich gemacht und alles genau beobachtet hatte, kam nun von seinem Platz herab und blickte dem Marienkäfer direkt in die Augen. »Santa Claus reitet nicht durch die Welt, er fliegt mit seinem Schlitten. Du aber hast nur eine Herde Asseln vor dein Gefährt gespannt. Ihr werdet ständig vor Hindernissen stehen, die nur mühsam überwunden werden können.« Er lachte.
Doch davon ließ sich der Marienkäfer nicht einschüchtern. »Warte es nur ab. Ich werde es dir schon zeigen. Ich bin Little Santa Claus und werde auch mit diesem Problem fertig werden.«
»Aber wie willst du das abstellen? Deine kleinen Käferflügel sind viel zu klein, um so viel Gewicht zu tragen. Wenn du darauf wartest, dass sie noch ein Stück wachsen, dann kannst du lange warten.«
Der Marienkäfer grinste breit von einem Ohr zum anderen. »Dann muss ich eben die Flügel eines anderen Tieres nutzen. Ich bin mir sicher, dass es hier ganz in der Nähe einen besonders vorlauten Vogel geben wird, der dann aber doch über seinen Schatten springt und mir hilft.« Der Rabe schluckte. Er wurde sofort stumm und sah sich unsicher um. Niemand anderes war zu sehen. »Nur vorlaut sein kann jeder, aber handeln muss man können.«
Der Rabe seufzte und ließ den Kopf hängen. »Ist ja gut. Du hast mich erwischt. Ich werde dir helfen.« Er breitete seine Flügel aus, ergriff vorsichtig mit seinen Krallen den Schlitten und flog los. Little Santa Claus jubelte laut, verstummte und setzte ein lautes Ho, Ho, Ho nach. Sie machten an Baumhöhlen, Nestern und Erdlöchern Halt, machten viele Geschenke und verbreiteten Freude im ganzen Wald, bis jedes einzelne Paket einen neuen Besitzer gefunden hatte.
»Das hat viel mehr Spaß gemacht, als ich dachte.«, gab der Rabe zu.
»Das höre ich gerne.«, antwortete der Marienkäfer. »Dann kann ich ja im nächsten Jahr wieder auf deine Hilfe zählen.«
Der Rabe lachte. »Verdammt! Du hast mich schon wieder erwischt. Ja du kannst auf mich zählen. Ich werde auch in Zukunft wieder deinen Schlitten durch die Lüfte tragen.«
Der Marienkäfer nickte glücklich. Sein großer Traum war in Erfüllung gegangen.
In diesem Moment öffnete er die Augen und gähnte laut. Der Käfer saß nicht mehr in seinem Walnussschlitten, sondern wieder in seinem Ohrensessel in seinem gemütlichen Heim.
»Oh nein, wie schade. Es war alles nur ein Traum. Das macht mich jetzt richtig traurig.«
Da klopfte es an der Tür. Der Marienkäfer vergaß die Träne, die beinahe an seiner Wange herab gekullert wäre, stand aus dem Sessel auf und ging zur Tür. Er öffnete. Ein unangenehmer Wind wehte herein, als wäre dieser direkt vom Nordpol gekommen. »Ho, ho, ho, mein kleiner, gepunkteter Freund. Ich freue mich, dass ich dich gefunden habe. So eine kleine Behausung kann man nämlich sehr schnell übersehen.«
Draußen saß ein großer, dicker Mann in rotem Mantel und Mütze gekleidet. Der freundlich lächelnde Mund verschwand fast komplett hinter einem langen, weißen Bart.
»Bist du es wirklich?«
Der Mann nickte.
»Bist du Santa Claus?«
»Jawohl, der bin ich, er leibhaftige Weihnachtsmann.« Er zeigte auf den Schlitten mit den Rentieren, der am Waldrand parkte und mit einem großen, schwer befüllten Sack beladen war.
»Ich habe ein Geschenk für dich, mein kleiner Freund.« Santa Claus griff in seine Tasche und holte ein Päckchen hervor.
Der Marienkäfer ließ es sich nicht zweimal sagen und öffnete es. Begeistert riss er seine Augen auf. »Ein roter Mantel, schwere Stiefel, eine Mütze und ein Baumwollbart. Ist es das, was ich denke?«
Der große Mann nickte. »Du bist Little Santa Claus. Also brauchst du auch die richtige Arbeitskleidung. Und nun mach dich direkt ans Werk. Dort drüben steht dein Schlitten. Die Geschenke sind fertig gepackt. Verteil sie an deine Freunde hier im Wald und schenke ihnen ein wenig Freude.«
Nun hatte der Marienkäfer doch noch Tränen im Gesicht. Doch dieses Mal nicht wegen seiner Enttäuschung. Neben seiner Veranda stand der Walnussschlitten aus seinem Traum, davor waren acht Asseln gespannt. Selbst der Rabe stand bereit und zwinkerte verschwörerisch.
»Ich muss weiter, kleiner Freund. Und du auch.« Er verabschiedete sich. Gleichzeitig sprangen der große und der kleine Santa Claus in ihre Schlitten und flogen mit lautem Ho, ho, ho davon.

(c) 2023, Marco Wittler

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