1550. Das Weihnachtsglöckchen

Das Weihnachtsglöckchen

Die Weihnachtszeit stand vor der Tür. In diesen Tagen saß Santa Claus beinahe rund um die Uhr in seinem Büro hinter dem Schreibtisch. Früher hatte er Berge von Briefen und Flaschenpost sortiert, gelesen und ihnen Geschenke zugeordnet. Die artigen Kinder bekamen ein großes Paket, die nicht ganz so braven natürlich auch. Immerhin sollte niemand an Weihnachten traurig sein. Er hatte einfach ein viel zu großes Herz und mochte keine Tränen sehen.
Zwischendurch ging Santa Claus auch in die Werkstatt, sah seinen Wichteln bei der Arbeit zu und machte hier und dort Verbesserungsvorschläge, falls ihm zu den Spielzeugen noch ein paar neue Ideen einfielen.
Mehrmals am Tag betrat er auch die große Scheune. Die darf man sich nicht vorstellen, wie man sie hierzulande von Bauernhöfen kennt. Nein. Sie waren topmodern eingerichtet. Jedes Rentier hatte sein eigenes Zimmer mit gemütlichem Bett und anderen Möbeln. Das Gebäude glich eher einer großzügig eingerichteten Wohngemeinschaft.
In diesem Jahr war dort allerdings etwas anders. Darauf hatte sich Santa schon lange gefreut. Vor ein paar Wochen hatte es Nachwuchs gegeben. In einem der Räume hatten sie deswegen schon einen Kindergarten eingerichtet. Dort tummelten sich nun acht junge Rentiere, die es kaum erwarten konnten, groß zu werden, um auch eines Tages den großen Schlitten mit den Geschenken um die Welt zu ziehen. Dieses Mal waren aber noch die großen Tiere an der Reihe.
»Bald.«, versprach der alte Mann immer wieder und versuchte damit, die Ungeduld der Kleinen ein wenig zu bremsen. »Ihr kommt bald an die Reihe. Das verspreche ich euch.«
Das Weihnachtsfest kam. Auf dem zentralen Platz zwischen den Gebäuden war der Schlitten aufgestellt und festlich mit bunten Girlanden geschmückt worden. Davor standen die acht Rentiere, allen voran Rudolph mit der rot leuchtenden Nase. Sie hatten bereits ihre Geschirre angelegt und waren bereit, jederzeit zu starten. Es konnte nicht mehr lange dauern, denn auf einem hohen Turm lief eine Uhr rückwärts. Sie zeigte den Countdown bis zum Start. Darauf verblieb nur noch eine knappe Minute.
Die Tür des Büros öffnete sich. Santa Claus trat unter großem Applaus ins Freie, winkte seinen Freunden mit Mitarbeitern zu, die dieses Jahr wieder alles gegeben hatten, um Kindern eine Freude zu bereiten.
»Es geht los! Es geht los! Lasst und Glück und Frohsinn in die Welt hinaustragen.«
Er ließ sich in den weich gepolsterten Sitz des Schlittens fallen, griff zu den Zügeln und gab das Startkommando. Rudolph nickte seinen Artgenossen zu. Dann hoben sie ab und flogen in die dunkle Nacht hinaus.
Am Boden blieben nicht nur die Wichtel zurück, die sich nun auf ihren wohlverdienten Urlaub freuten, auch die kleinen Rentiere blickten dem Gefährt noch eine ganze Weile nach und träumten davon, vielleicht schon im nächsten Jahr selbst Rudolph folgen zu können. Noch in der selben Nacht, lagen sie im Stall in ihren Betten und erzählten sich gegenseitig von ihren kühnsten Weihnachtsträumen und welch besonderen Geschenke sie verteilen wollten.

»Nach dem Weihnachtsfest ist vor dem Weihnachtsfest.«
Santa Claus war gerade von seiner Reise zurückgekehrt, da saß er auch schon wieder im Büro. Nun galt es dafür zu sorgen, dass seine fleißigen Helfer die nötige Ruhe bekamen, die sie bitter nötig hatten. Immerhin hatten sie monatelang gearbeitet und sich in den letzten Wochen kaum ausruhen können. Die nächsten sechs Monate würde es am Nordpol besonders ruhig zugehen. »Mit Ausnahme von Freizeitaktivitäten.«, schrieb er unter seinen Rundbrief.
Doch irgendwann war jeder Urlaub einmal zu Ende. Pünktlich zum Sommerbeginn landete der private, etwas weniger auffällige Schlitten von Santa Claus wieder am Nordpol. »Puh! Ich vergesse jedes Jahr wie kalt es doch hier Zuhause eigentlich ist. Ich sollte mir endlich angewöhnen, nicht in Badehose heimzukehren. Mir frieren glatt die Zehennägel ab.«
Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, marschierte er zuerst in sein Haus, und zog sich den dicken, roten Mantel über und setzte sich die warme Mütze auf. Gut ausgerüstet ging er die Werkstatt und packte kräftig mit an, die eingestaubten Maschinen zu reinigen und wieder in Gang zu setzen. »Wir haben ein Fest vorzubereiten, liebe Freunde.«
Der Gang in den Stall machte ihn besonders neugierig. Wie mochten sich wohl die jungen Rentiere gemacht haben? Sie waren mittlerweile bestimmt groß, stark und würden in ihrem jugendlichen Leichtsinn in der Luft umherschweben und unter der Decke entlang laufen, wie es jede Generation vor ihnen auch gemacht hatte.
Mit einem einen Grinsen im Gesicht, betrat Santa Claus das Gebäude und sah sich um. Er hatte Recht behalten. Die Tiere tobten sich aus, tanzten den Älteren regelrecht auf der Nase herum.
»Ich weiß gar nicht, wie meine Eltern das ausgehalten haben.«, sagte Rudolph immer wieder, der ihn am Eingang empfangen hatte und nun begleitete. »Wir können damals unmöglich so schlimm und nervig gewesen sein.«
Santa Claus schüttelte den Kopf und lachte. »Du warst das schlimmste Rentier von allen. Aber damit hast du mir auch von Anfang an gezeigt, dass mehr in die steckt und wir dein Talent nur herauskitzeln mussten. Du musstest nur sanft in die richtige Richtung angestupst werden. Der Rest kam ganz allein von dir.«
Er klopfte nach und nach an den Zimmertüren an, begrüßte seine Rentiere und streichelte ihnen über ihr Fell. Doch irgendwann blieb er stehen und stutzte. Er legte die Stirn in Falten und zählte mit seinen Fingern. »Da fehlt doch jemand. Hab ich vielleicht eines meiner Rentiere übersehen?«
Rudolph schüttelte den Kopf. »Unser Kleinster macht uns ein wenig Sorgen. Er ist freundlich, er ist munter, aber er ist klein geblieben.« Rudolph hielt sich einen Huf vor den Mund und begann zu flüstern. »Und was ihm am meisten frustriert: er kann nicht fliegen. Die anderen sind ganz aktiv, während er vom Boden aus nur zuschauen kann. Er wird dir zu Weihnachten keine große Hilfe sein, befürchte ich. Er müsste schon längst in das Training eingestiegen sein.«
»Lassen wir ihm Zeit. Das wird schon.« Santa Claus klopfte Rudolph auf die Schulter. »Mit dir war es auch nicht immer einfach.«

Der kalte Sommer am Nordpol ging langsam in den Herbst über und dieser in den Winter. Die Weihnachtswerkstatt lief auf vollen Touren und produzierte für jedes artige und nicht ganz so brave Kind ein wunderschönes Geschenk.
Am Vorabend zum Fest stand der große, geschmückte Schlitten in der Mitte des großen Zentralplatzes. Alle Wichtel standen gespannt bereit, die Rentiere hatten ihre Plätze in den Geschirren eingenommen und scharrten bereits mit den Hufen. Sie waren unglaublich aufgeregt, denn bis auf Rudolph waren es nur Jungtiere, die noch nie den beladenen Schlitten gezogen hatten.
Dann war es so weit. Santa Claus verließ sein Haus, winkte seinen Freunden und Mitarbeitern zu und ließ sich in seinen Sitz im Schlitten fallen. Er griff zu den Zügeln und wollte gerade das bekannte Startkommando geben, als sein Blick auf das kleine Rentier fiel, dass bis heute noch nicht fliegen konnte und sehr traurig und enttäuscht aussah.
Santa Claus blickte auf seine Uhr. Sie hatten die Startzeit bereits um ein paar Sekunden überschritten. »Haben wir noch einen kurzen Augenblick, Rudi? Ich muss noch etwas Wichtiges erledigen.«
Rudolph nickte mit einem Lächeln. Er wusste, dass da noch jemand getröstet werden musste.
Santa Claus stieg wieder aus. Er pflückte ein kleines Messingglöckchen vom Schlitten ab und brachte es zum kleinen Rentier. Als wäre es eine geheime Sache, hielt er das Glöckchen in seiner Hand versteckt und übergab es mit einem Zwinkern. »Ich weiß, es ist nichts Besonderes. Aber wenn es dir nicht gut geht, mein kleiner Freund, dann schau auf mein kleines Geschenk. Es soll dich daran erinnern, dass ich immer an die glauben werde. Außerdem ist es nicht schlimm, wenn du nicht fliegen kannst. Jeder von uns wird irgendwann einen Platz finden, wohin er gehört, wo er sich gebraucht fühlt. Irgendwann wird es auch bei dir so weit sein. Ich werde jedenfalls immer für dich da sein und dir auf diesem Weg helfen.« Er wollte sich schon wieder auf den Weg zum Schlitten machen, als ihm noch etwas einfiel. »Ich weiß, dass dich Weihnachten dieses Jahr besonders unglücklich macht, weil du deine Ziele nicht erreicht hast. Wenn es dir nachher oder in ein paar Tagen besonders schlecht geht, dann nimm das Glöckchen, schüttele es hin und her und lass es erklingen. Es wir dir dann augenblicklich besser gehen.«
Nun war es aber wirklich an der Zeit, das Weihnachtsfest zu beginnen. Santa Claus stieg in den Schlitten und flog davon.
Das kleine Rentier blickte ihm nach und begann sofort zu schluchzen. »Ich … ich möchte doch einfach nur dabei sein und helfen können. Wenn ich doch nur fliegen könnte.«
Es griff zum Glöckchen. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mir dieses kleine Ding dabei irgendwie helfen könnte.« Frustriert warf es sein Geschenk fort, sah ihm nach, wie es auf den Boden fiel und beim Aufprall erklang.
Plötzlich verlor das Rentier den Halt unter den Füßen. Es begann zu schweben. Erst waren es nur wenige Zentimeter, dann immer höher und höher, bis es von oben auf die Gebäude blicken konnte.
»Ich kann fliegen! Schaut alle zu mir. Ich kann endlich fliegen.« Es drehte eine Runde, eine zweite, flog einen Looping, bis es in der Ferne den Schlitten des Weihnachtsmanns entdeckte. Sofort nahm es die Verfolgung auf, umrundete ihn und winkte aufgeregt hinüber.
»Vielen, vielen Dank, Santa Claus. Du hast mir das größte Geschenk gemacht, das ich mir vorstellen konnte. Ich bin überglücklich.«
Und dann begleitete es den Schlitten um die ganze Welt und freute sich, bei jeder Auslieferung der Geschenke dabei sein zu dürfen.

(c) 2023, Marco Wittler

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