1599. Ein freundliches Licht

Ein freundliches Licht

Dunkle Wolken zogen sich am Horizont zusammen. Innerhalb kürzester Zeit bedeckten sie die orange leuchtende Scheibe der untergehenden Sonne vollständig und zogen immer näher herbei. Die strahlende Licht, das von einem satten Blau bis hin zu einem kräftigen Rot den Himmel beherrscht hatte, wurde nun von einem bedrohlichen Gelb verdrängt.
Die Grillen, die den ganzen Tag unermüdlich im Gras gezirpt hatten, verstummten. Die Schwalben, die in wilden Manövern nach Insekten gejagt hatten, waren in ihren sicheren Nestern und den Hausdächern verschwunden.
»Mama?« Paula hielt es in ihrem Liegestuhl im Garten nicht mehr länger aus. »Können wir bitte ins Haus gehen? Mir macht das Wetter Angst. Es gibt bestimmt gleich ein Gewitter. Du weißt, dass ich Angst vor dem Donner und noch viel mehr vor Blitzen habe.«
Mama blickte von ihrem Buch auf, in das sie seit ein paar Stunden vertieft gewesen war und nickte sofort. Gemeinsam räumten sie die Stühle ins Gartenhaus und machten es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich.
Nur wenige Minuten später fuhr ein grelles Licht vom Himmel nieder. Ganz ohne Vorwarnung hatte das Gewitter begonnen. Im selben Augenblick begann es in Strömen zu regnen, als hätte jemand die Ablassrohre eines Stausees geöffnet.
»Mach bitte, dass es aufhört. Das Gewitter macht mir Angst. Ich mag das helle Licht nicht.«
Paula konnte sich nicht entscheiden. Mal hielt sie sich die Hände vor das Gesicht, mal zog sie sich ihre Kuscheldecke über den Kopf. Am Ende versuchte sie beides gleichzeitig. Das Gewitter verschwand aber nicht. In immer kürzeren Abständen donnerte und blitzte es, während ein Sturm um die Häuser fegte.
Während Paula ängstlich auf dem Sofa saß, erging es einem kleinen, unscheinbaren Tier noch viel schlimmer. Ein Glühwürmchen war auf dem Ast eines Busches eingeschlafen und hatte nicht mehr rechtzeitig einen sicheren Unterschlupf suchen können. Nun wurde es von den Winden unbarmherzig hin und her gezerrt, mal in die eine, mal in die andere Richtung, bis es sich mit letzter Kraft an einem Fensterrahmen festhalten konnte.
Müde blickte es in die warme Stube und beneidete die Menschen, die in ihrem Haus in Sicherheit lebten und nicht gegen das Wetter ankämpfen mussten. Doch dann sah das Glühwürmchen dieses kleine Mädchen, dass immer wieder unter einer Decke verschwand und am ganzen Körper zitterte.
»Mach bitte, dass es aufhört. Das Gewitter macht mir Angst. Ich mag das helle Licht nicht.«
»Hm. Ob ich was gegen die Angst des Mädchens unternehmen kann?« Das Glühwürmchen überlegte. »Ist mir egal. Ich muss etwas dagegen unternehmen. Ich hab da nämlich eine Idee.«
Schweren Herzens öffnete es seine Finger. Sofort packte der Wind das kleine Insekt und trieb es fort.
»Warum gibt es überhaupt diese fiesen Gewitter? Die sind für nichts nütze. Wer hat die eigentlich erfunden? Den sollte man bestrafen.«
Paula zog sich die Decke vom Kopf. Sie hielt es nicht länger auf dem Sofa aus. »Ich gehe jetzt in den Keller. Vor dem hab ich eigentlich auch Angst, weil es da so dunkel ist, aber das ist immer noch besser, als helle Blitze, die mich erschrecken.«
Plötzlich tat sich etwas dort draußen. Das Licht veränderte sich. Es wurde etwas heller, wärmer, freundlicher. Wie ein dicker Vorhand schwang es von außen vor das Fenster und ließ keinen Blitz mehr durch.
Mamas Augen wurden groß. »Was ist denn das?«
Paula hatte es sofort erkannt. »Das ist ein Glühwürmchenschwarm. Sie beschützen mich vor dem Gewitter. Ist das nicht toll?«
Doch dann griff der Sturm nach den kleinen Insekten. Sie drohten, hinweggefegt zu werden.
»Mama, mach das Fenster aus. Lass die Glühwürmchen herein. Draußen ist es für sie zu gefährlich.«
Mama nickte. Sie öffnete kurz das Fenster. Die kleinen Leuchtkäfer flogen sofort herein und setzten sich auf die Innenseite der Glasscheibe. Nun waren sie sicher. Nun konnte auch das Gewitter nicht mehr eindringen. Die Blitze hatten keine Chance, durch das Licht der Glühwürmchen zu durchdringen.
»Machen wir das jetzt immer so? Wir beschützen die Glühwürmchen vor dem Sturm und sie beschützen uns vor dem Gewitter.«
»Ja.« Das hielt Mama für eine gute Idee.

(c) 2024, Marco Wittler

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