1617. Roselotte Brombeergeist zieht um

Roselotte Brombeergeist zieht um

Es war Mitternacht. Im fernen Dorf hatte die Turmuhr gerade zur Geisterstunde zwölfmal geschlagen. Der Mond, der schon vor einer Weile hinter dem Horizont hervorgekommen war, kletterte nun an den Bäumen des Waldes empor. Kaum war sein fahles Licht auf eine Lichtung gefallen, öffneten sich dort auf der Wiese zahlreiche Blüten und gaben den Weg frei für kleine Wesen, die in ihnen geschlafen hatten. Aus einer von ihnen stieg ein kleiner Geist empor, der selbst schemenhaft leuchtete.
»Wacht auf, meine Freunde. Es ist an der Zeit.«
Schon stiegen weitere Geister auf. Sie gähnten laut, sie reckten und streckten sich. Offensichtlich hatten sie gut und fest geschlafen.
»Heute Nacht erwartet uns etwas Großartiges.«, begann der Erste zu erklären. »In den nächsten Stunden werden Sternschnuppen in großer Zahl auf die Erde stürzen. Ein paar davon steuern unsere Lichtung an. Sobald eine von ihnen den Boden berührt, erwächst an dieser Stelle ein kleines Schloss, das jeweils von einem Geist bezogen werden kann. Das gibt euch mehr Sicherheit vor den Menschen und wilden Tieren.«
Ein eigenes Spukschloss? Davon hatte Roselotte Brombeergeist schon lange geträumt. Nun gut, eigentlich träumte sie immer noch davon, denn sie lag weiterhin in ihrer Blüte und schnarchte vor sich hin.
»Wo kommt eigentlich dieses Geräusch her?« Der Erste flog in immer größeren Kreisen über die Lichtung hinweg, bis er den Ursprung gefunden hatte. »Roselotte Brombeergeist, möchtest du nicht auch endlich aufstehen und den lang erwarteten Moment herbeisehnen?«
Roselotte Brombeergeist wachte augenblicklich auf. »Du sollst mich nicht so nennen. Mein Name ist Lotti. Merk dir das endlich.« Sie wollte dem anderen Geist noch ein paar Flüche und Verwünschungen an den Kopf werfen, doch da ging die erste Sternschnuppe hernieder und schlug in den Wald ein. Es begann zu beben, die Bäume wackelten, das Laub in den Kronen raschelten. Der Boden riss auf. Ein Dach wuchs wie eine Blume in die Höhe, Ein wunderschönes, kleines Schloss entstand.
Ein zweite, dritte, vierte Sternschnuppe folgten. Immer wieder krachten sie durch das Blätterdach und brachten ihre wertvolle Fracht zu den Geistern. Nach ein paar Minuten war es vorbei. Es wurde still. Die leuchtenden Streifen am Himmel verschwanden.
»Nun denn, meine lieben Geister. Sucht euch euer Schloss aus und bezieht es. Sie werden ab heute euer Heim sein.«
Das ließen sich die Geister nicht zweimal sagen. Sie blickten sich kurz um und durchdrangen auf geisterhafte Weise die dicken Mauern.
Lotti war inzwischen von ihrer Blüte auf den Boden geklettert. Mit schweren Schritten ging sie auf das letzte verbliebene Schloss zu und umrundete es mehrmals.
»Ich habe da mal eine Frage. Wie komme ich hinein? Da fehlen Tür und Fenster.« Sie blickte an sich herab. Die Füße in den großen Stiefeln erinnerten sie ein weiteres Mal daran, dass sie in ihrer Ungeduld zu früh geboren worden war, deshalb weder schweben, noch Wände durchdringen konnte.
»Da ist so unglaublich unfair. Ich möchte auch ein eigenes Schloss haben.« Der Ärger und die Wut suchten sich ihren Weg aus dem kleinen Geistermädchen heraus. In großen Rauchwolken stiegen sie aus ihren Ohren hervor und verteilten sich langsam über der Lichtung. Doch dann begann Lotti zu grinsen. Sie machte kehrt, lief eine Weile quer durch den Wald, bis sie eine Weide erreichte.
»Ha! Wusste ich es doch.« Am Eingangsgatter hing ein altes, rostiges Schloss. Den passenden Schlüssel hatte der Hirte aus Faulheit daneben aufgehängt. Lotti schnappte sich beides und machte sich auf den Weg zurück zu ihrer Blume. Sie kletterte hinauf, schloss die Blütenblätter um sich herum und hängte das Schloss daran. Nun konnte niemand mehr hereinkommen.
»Hallo? Könnt ihr mich in euren neuen Heimen hören? Ich habe jetzt nämlich auch ein eigenes Schloss. Dafür muss ich nicht mal durch Wände gehen.«
Lotti kugelte sich auf ihrem Rücken und lachte so laut, dass es im ganzen Wald zu hören war.

(c) 2024, Marco Wittler

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*