Roselotte Brombeergeist bekommt kalte Füße
Es war ein sternklare Nacht. Unzählige kleine und kleinste helle Punkte funkelten am Firmament. Einige reihten sich sogar zur einem breiten Band aneinander und zogen von der einen Seite des Horizonts zur anderen. Die Menschen im Dorf, das sich auf der anderen Seite des großen Waldes befand, nannten es Milchstraße, obwohl es auch für sich nur Sterne waren. Sie wussten allerdings nicht, wie recht sie mit diesem Namen hatten, den schon vor langer Zeit war dem großen Wagen ein Rad gebrochen, wodurch er ins Schleudern geraten war und seine Milchkannenlieferung verloren hatte. Doch das ist Stoff für eine ganz andere Geschichte. In dieser soll es um das kleine Geistermädchen Roselotte Brombeergeist gehen, deren Blume in diesem Moment vom Licht des aufgehenden Mondes gestreift wurde.
Sie gähnte laut, streckte die Arme aus und stand auf. »Brrr, warum ist das heute so kalt? Das kenne ich von unserer Waldlichtung gar nicht.«
Sie blickte an sich herab und wackelte mit ihren winzig kleinen Zehen, die sie kaum noch spüren konnte. »Was soll das denn? Was ist hier los?« Sie blickte über die Blätter ihrer Blüte hinweg, in der sie seit ihrer Geburt lebte und wohnte. Als sie die Hände auf die Ränder legte, geschah etwas Unglaubliches und Unerwartetes. Die Blütenblätter lösten sich und sanken langsam zu Boden.
Nun regten sich auch die anderen Geister in ihren Blumen. Die Älteren sahen Roselottes verwirrtes Gesicht und kicherten. »Es kommt der Winter. Es wird kalt und kälter. Für die nächsten Monate werden die Blumen verschwinden. Es ist an der Zeit, dass wir uns andere Behausungen suchen. Das gilt auch für dich, Roselotte Brombeergeist.«
Im Geistermädchen begann es zu brodeln. Das lag nicht nur daran, dass man sie wieder mit ihrem vollen Namen ansprach, was sie gar nicht leiden konnte. »Mein Name ist Lotti. Das habe ich schon so oft gesagt.« Ein weiterer Grund lag darin, dass sich die anderen Geister nun in kleine Burgen oder ausgehöhlte Baumstümpfe zurückziehen würden, die allesamt eines gleich hatten. Es gab in ihnen keine Türen. Man musste in sie hinein schweben. Damit hatte Lotti ein Problem. Sie konnte weder schweben noch Dinge durchdringen. Sie musste eine andere Lösung für den Winter finden.
In den nächsten Minuten zerfielen alle Blumen auf der Lichtung. Die Geister packten ihre sieben Sachen und zogen in ihre Winterquartiere um. Schon nach kurzer Zeit stand Lotti ganz allein auf der Lichtung.
»Ja und jetzt?«
»Ich hätte da eine Idee.«
Hinter einem Busch trat eine kleine Person hervor, die Lotti aus der Schule kannte. Theodora Taraxacum war eine Kräuterhexe, die sich sehr für alle Arten von Pflanzen interessierte. »Ich kann dir bei deinem Problem helfen. Ich habe erst mit dem botanischen Studium begonnen und kenne noch nicht so viele Blumen, ein paar Besondere habe ich aber schon in meinem kleinen Gewächshaus angepflanzt. Wenn du magst, zeige ich sie dir.«
Sie zog einen knorrigen Zauberstab aus ihrem Ärmel, wedelte ein paar Mal damit im Kreis und ließ ein kleines, gläsernes Häuschen erscheinen. Gemeinsam betraten sie es. Vom ersten Schritt an waren sie vom üppigen Grün umringt, das bis zum Dach wuchs.
»Ein Gewächshaus hat tolle Eigenschaften. Wenn die Sonne scheint, wird die Luft hier drin vom Licht erwärmt. Das Dach wiederum hält die Wärme für eine Weile fest. Das nennt man Treibhauseffekt. Im Winter bringt das aber nicht viel, weil die Tage immer kürzer werden und die Sonne seltener scheint. Deswegen wachsen hier ein paar ganz besondere Pflanzen.«
Theodora Taraxacum führte Lotti weiter in ihren kleinen Dschungel hinein, bis sie vor einer großen Blüte standen, aus der ein langer Stängel wuchs. »Das ist der gefleckte Aronstab. Er erzeugt eigene Wärme und eignet sich wunderbar als Heizung für mein Gewächshaus.« Die Hexe musste lachen, während sie sich eine Wäscheklammer auf die Nase setzte. »Leider stinkt die Blüte sehr und giftig ist sie obendrein. Dafür wird es in ihr fünfunddreißig Grad warm. Diese Pflanze ist die Sauna auf jeder Blumenwiese.«
Sie gingen weiter, bis Lotti mehrfach niesen musste. »Ist ja komisch. Ich habe doch gar keine Nase. Warum passiert mir das?«
Theodora zeigte auf die nächste Blume. »Kein Wunder, wir haben das Nieswurz erreicht. Es erzeugt ebenfalls Wärme und ist fast so ein schlimmer Stinker wie der Aronstab.«
Lotti dachte nach. Ohne Nase konnte sie keine unangenehmen Gerüche wahrnehmen. Als Geist konnten ihr Gifte nichts anhaben. Nur Besuch würde sie wohl keinen mehr bekommen. »Was kannst du mir noch zeigen?«
Sie ging weiter, bis sie vor einem Teich standen. Große, flachen Blätter schwammen auf dem dem Wasser, dazwischen immer wieder Blüten, die aus vielen, farbenfrohen Blättern bestanden.
»Sind das Seerosen?«
Theodora schüttelte den Kopf. »Das ist der Lotos. Wächst leider im Wasser.« Sie sah auf Lottis Stiefel. »Du wirst nicht so einfach zur Blüte gelangen.«
Ein paar Schritte weiter hörte das Geistermädchen ein Klingeln, als würde jemand mit kleinen Glocken durch das Gewächshaus laufen. »Ist noch jemand hier?«
Theodora schüttelte den Kopf. »Das sind die Schneeglöckchen. Nur ganz besondere Wesen können ihren leisen Klang hören. Du scheinst eines von ihnen zu sein. Ich glaube, sie würden ir gefallen. Ihre Blüten sind zwar etwas klein und hängen herab, dafür könntest du dich aber unter sie setzen und sie als Heizstrahler benutzen.«
»Das ist perfekt. Ich mag die Schneeglöckchen jetzt schon.«
Die Kräuterhexe nickte zufrieden. »Dann sollten wir dir nun ein gemütliches Winterquartier einrichten.«
Sie schufteten die ganze Nacht, sammelten alte Baumrindenstücke, aus denen sie ein Häuschen bauten. Außen herum wuchsen rasch die Schneeglöckchen empor. Abwechselnd holte Lotti die Blüten durch die Fenster herein und ließ es sich in deren Wärme gut gehen. Zum Klang der kleinen Blumen sang sie nun in jeder Nacht ein neues Lied, das aufmerksame Wanderer im Wald hören konnten und sich wunderten, warum sie die Sängerin nicht finden konnten. Schnell machte sich das Gerücht über ein unsichtbares Wesen im Dorf die Runde, das mit seinem lieblichen Gesang, die Menschen verzaubern wollte. Doch das ist Stoff für eine andere Geschichte.
(c) 2024, Marco Wittler
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