1630. Die Betten der Frau Holle

TRIGGER WARNUNG / CONTENT NOTE:
Bitte lies meine Geschichten einmal selbst, bevor du sie deinen Kindern vorliest. Sie sind zu Halloween etwas gruseliger, auch wenn sie lustig enden. Bitte bewerte vorher, ob dein Kind die Geschichten bereits versteht, damit umgehen kann und sich nicht zu sehr gruselt.

Die Betten der Frau Holle

Die junge Bauerstochter saß am Brunnen. Vor ihr drehte sich die Spindel ohne Unterlass und verwandelte einzelne Fasern in lange Fäden, mit denen im Winter neue Kleidung gestrickt werden konnte.
»Puh, das ist ganz schön anstrengend.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn es war ein ganz besonders heißer Tag, an dem sich keine einzige Wolke am Himmel zeigte.
»Selbst den Wolken ist es schon zu warm geworden. Ich bin mir sicher, dass sie sich zum Meer verzogen haben, um sich darin abzukühlen.«
Während die Bauerstochter in Gedanken an eine Abkühlung war, stach sie sich an der Nadel der Spindel den Finger. »Autsch! Lass das, du dummes Ding. Das tut doch weh.« Sie nahm den Finger in den Mund und hoffte, dass der Schmerz schnell nachlassen würde.
»Vielleicht sollte ich Dornröschen fragen, ob sie mir hilft. Ich habe gehört, dass sie sich mit Spindeln besonders gut auskennt.« Sie kicherte leise. Immerhin lag die Königstochter nun schon seit einiges Jahrzehnten hinter einer großen Dornenhecke im Tiefschlaf und ihr gesamter Hofstaat gleich mit. »Ich könnte mich auch von Rumpelstilzchen ablösen lassen, wenn er nicht so unverschämte Forderungen machen würde, was seine Bezahlung angeht. Ich würde niemandem mein Kind dafür geben.«
»Was sabbelst du denn die ganze Zeit, statt zu arbeiten?« Die Stiefmutter war von der Küche in den Hof gekommen und blickte grimmig drein. »Du sollst spinnen und dir keine dummen Geschichten ausdenken. Das schickt sich nicht.«
Die Bauerstochter verdrehte die Augen. »Ich habe mir den Finger blutig gestochen. Das Ding mag mich einfach nicht.« Um ihrem Frust Luft zu machen, schlug sie leicht gegen die Spindel. Diese löste sich aus ihrer Halterung und plumpste in den Brunnen. Ein lautes Platsch ertönte aus der Tiefe.
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Weißt du, was eine neue Spindel kostet? Die kann man nicht mal eben bei Amazon bestellen. Die stell der Spindelmacher selbst her. Die sind Handarbeit. Du kletterst sofort in den Brunnen und holst sie wieder nach oben.«
Die Stiefmutter zog ein Nudelholz aus ihrer Schürzentasche und kam einen Schritt näher.
»Ist ja schon gut. Dann bekomme ich vielleicht sogar eine Abkühlung im Wasser.«
Die Bauerstochter kletterte in den Brunnen. Es ging mehrere Meter tief unter die Erde, bis sie sich das letzte Stück einfach ins Wasser fallen ließ.
»Wo steckt denn das Ding?« Sie sah sich um, tastete über die Oberfläche. Es verirrte sich kaum ein Sonnenstrahl hierher, weswegen man kaum etwas erkennen konnte.
Plötzlich wurde sie am Fußknöchel gepackt. Jemand zog sie unter Wasser. Die Bauerstochter versuchte, sich zu befreien, doch da verlor sie das Bewusstsein.

Sie riss die Augen auf, schrie und sah sich ängstlich um. Sie lag allein auf einer weiten Wiese. Wer auf immer sie gepackt hatte, war verschwunden.
Die Bauerstochter stand auf, klopfte sich die Grashalme vom Kleid und ging los. Sie musste herausfinden, wo sie war und wie sie hierher gekommen war. »Ist das ein Haus dort in der Ferne? Vielleicht kann ich jemanden finden, der mir hilft.«
Sie erreichte einen großen Hof, der von einer hohen Mauer umgeben war. Das Eingangstor stand offen. Im Innern stand eine alte, lächelnde Frau. »Komm nur, ich habe dich schon erwartet. Komm her. Ich kann deine Hilfe gebrauchen.«
Die Bauerstochter trat durch das Tor. »Ich könnte auch …«
»Du bist durch den Brunnen hierher gekommen. Ich kann dir auch sagen, wie du wieder nach Hause kommst. Das sind doch die Fragen, die du dir gerade stellst. Ich bin übrigens die Frau Holle. Ich habe gerade sehr viel zu tun.« Sie zeigte auf die vielen Fenster, die alle geöffnet waren. Aus jedem hing Bettzeug.
»Das ist mein Gasthaus. Hier haben letzte Nacht viele Reisenden übernachtet. Nun sind sie wieder fort und ich muss die Betten machen. Magst du mir helfen? Du schaust fleißig und geschickt aus. Danach schicke ich dich auch gern zurück zu deiner Familie.«
Die Bauerstochter muss nicht lange nachdenken. Sie nickte sofort. Frau Holle führte sie zum ersten Zimmer und griff nach der dicken Decke. »Schau her! Du hältst sie aus dem Fenster und schüttelst kräftig. Das sieht einfacher aus, als es ist, denn du musst aufpassen, dass sich niemand verletzt.«
Dass sich niemand verletzt? Aber im Hof war doch niemand. Eine weiche Decke konnte auch nicht besonders schmerzhaft sein.
»Schau zu und staune!«
Frau Holle begann zu schütteln. Etwas fiel aus dem Bettzeug. Es waren kleine, weiße …

»Sind das etwa Schneeflocken? Kannst du es schneien lassen?«
Frau Holle lachte und schüttelte den Kopf. »Ich bin doch nicht Väterchen Frost und wir sind hier nicht in meinem Märchen. Nein, nein. Es sind kleine Geister. Sie haben sich hier drin versammelt, um etwas zu lernen. In der Gruppe haben sie viel Therorie studiert. Nun geht es an die Praxis. Ich bringe ihnen das Fliegen bei.«
Die Bauerstochter blickte ungläubig nach draußen. Und da sah sie sie. Kleine Geister, kaum größer als ein Fingerhut, schwirrten fröhlich durch die Luft, kreiselten umeinander oder trauten sich an gewagte Loopings heran. Dabei wuchsen sie nicht nur an Erfahrung, nein, auch an Größe nahmen sie mehr und mehr zu, bis sie einem Kleinkind zur Schulter gereiht hätten.
Nach und nach schüttelten die beiden Frauen die Betten auf und entließen immer mehr Geister in die Freiheit der Lüfte. Als sie das letzte Gästezimmer verließen, war Frau Holle zufrieden. Du hast gute Arbeit geleistet. Ich möchte dich nun auf den Weg nach Hause schicken. Zuvor möchte ich dir aber noch einen Wunsch erfüllen. Denke gut nach und wünsche weise. Möchtest du Gold, Reichtum, Edelsteine, einen Prinzen zum Gemahl oder etwas ganz anderes?«
Die Bauerstochter grinste. »Ich habe zwei Wünsche, wenn es erlaubt ist. Kannst du die Geister zu meiner Stiefmutter schicken, damit sie ihr einen riesigen Schrecken einjagen? Und ich würde gern bei dir bleiben. Zuhause hält mich nichts, aber ich mag dich und dein Gasthaus.«
Frau Holle nickte. »Zwei gute und weise Wünsche.«
Die Geister flogen los, verschwanden zwischen den Wolken am Himmel. Kurz darauf war es der Bauerstochter, als höre sie einen langen und von Panik erfüllten Schrei, der mehrere Minuten lang anhielt.
Fortan lebte und arbeitete sie bei Frau Holle, die ihr alles über kleine Geister beibrachte und wie man sie das Fliegen und Spuken lehren konnte.

(c) 2024, Marco Wittler

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