1631. Sieben Buh auf einen Streich

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Bitte lies meine Geschichten einmal selbst, bevor du sie deinen Kindern vorliest. Sie sind zu Halloween etwas gruseliger, auch wenn sie lustig enden. Bitte bewerte vorher, ob dein Kind die Geschichten bereits versteht, damit umgehen kann und sich nicht zu sehr gruselt.

Sieben Buh auf einen Streich

Ein Schneider saß mit überkreuzten Beinen auf dem Tisch in seiner Werkstatt und nähte gerade an einer schicken Weste für den Bürgermeister. Er durfte sich bei seiner Arbeit auf keinen Fall gestört werden. Das Stück musste perfekt werden. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Er war sich sicher, dass nach dem Sommerfest viele Freunde und Geschäftspartner seines wichtigen Kunden ebenfalls zu ihm kommen würden.
»Kauft leckeres Fruchtmus!« Eine alte Bäuerin kam des Weges. Ihre laute Stimme war selbst durch das geschlossene Fenster zu hören. »Kauft leckeres Fruchtmus!«
Der Schneider hielt inne. Er durfte sich auf keinen Fall ablenken lassen. Das hatte er sich fest vorgenommen.
»Kauft mein frisches Fruchtmus!«
»Ja, ist in Ordnung. Aber nur eine kleine Ablenkung. Ich bin mir sicher, dass ein Brot mit Mus meine Konzentration fördern und mein Augenlicht schärfen wird.«
Er legte die Weste zur Seite, öffnete das Fenster und lehnte sich ein Stück nach draußen. »He da, Mütterchen. Kommt her. Ich habe Appetit auf eine zünftige Brotzeit mit eurem leckeren Mus. Verkauft mir etwas von dem guten Zeug.«
Sie zog ihren Handkarren zum Fenster, nahm in die eine Hand eine große Scheibe Brot, mit der anderen klatschte sie einen Schöpflöffel voll Pflaumenmus darauf. »Wohl bekommt es, der Herr.«
Der Schneider bezahlte und schloss wieder das Fenster. Was ihm freilich entging, waren die ungebetenen Gäste, die dem süßen Duft gefolgt waren. Sieben Fliegen waren es an der Zahl, die sich auf der Zimmerwand niederließen, um auf den richtigen Moment zu warten.
»Ich nähe jetzt aber noch das letzte Stück zu Ende, bevor ich mir den leckeren Gaumenschmaus gönne.« Der Schneider legte das Brot neben sich auf den Tisch, griff wieder zur Weste und beendete die letzte Naht.
»Jetzt hab ich großen Hunger.« Er blickte auf das Brot hinab. Dort saßen nun die Fliegen und ließen sich den süßen Aufstrich bereits schmecken.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein. Wer hat euch denn eingeladen? Verschwindet sofort!«
Der Schneider griff nach einem Stoffrest, schlug unbarmherzig zu, dass das Pflaumenmus in alle Richtungen davon spritzte. »Grundgütiger. Ich habe die Weste schmutzig gemacht. Die Flecken werde ich nie wieder aus dem Stoff bekommen. Ich muss von vorn beginnen.« Von sich selbst enttäuscht, zog er den Stoff vom Brot und staunte. Er hatte alle sieben Fliegen erwischt.
»Das ist etwas, wovon die ganze Welt erfahren muss.« Sofort zog er seinen Gürtel aus den Hosenlaschen und bestickte ihn. »Sieben auf einen Streich. Das wird sie alle beeindrucken.«
Bis zum Abend war er mit seiner Trophäe fertig. Mit dem Sonnenuntergang fehlte das nötige Licht, um die neue Weste zu beginnen, also bereitete sich der Schneider auf einen gemütlichen Abend mit einem heiteren Buch vor. Er nahm in seinem großen Ohrensessel Platz, schenkte sich ein Gläschen ein und schlug die erste Seite auf. Noch bevor er die ersten Zeilen lesen konnte, ertönte ein vielstimmiges Buh, das ihm durch Mark und Bein ging.
»Wer ist da? Wer sucht mich heim? Ich bin nur ein armer Schneider und habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.«
Er kam nur ein weiteres Buh als Antwort.
»Wer seid ihr? Los, zeigt euch.«
Der Schneider sprang auf, sah sich panisch um. Da entdeckte er sieben Fliegen an der Wand, nur dieses Mal wirkten ihre Körper durchsichtig wie ein aus Glas. Sofort griff er nach dem Stoffrest, schlug erneut zu, konnte die kleinen Tiere aber nicht treffen. Der Stoff durchdrang sie, als wären sie aus Luft.
»Buh!«
Der Schneider brach in Tränen aus. Dort saßen die Geister der Fliegen, die er am Nachmittag erschlagen hatte. Sie waren hierher zurückgekehrt, um ihn an seine Gräueltat zu erinnern. Fortan wichen sie ihm nicht mehr von der Seite. Von Früh bis Spät, am Tag und in der Nacht ließen sie ihr anklagendes Buh erklingen.

(c) 2024, Marco Wittler

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