Flaschenpostbote Knut stürzt ab
Knut schwebte vor dem großen Spiegel im Flaschenpostamt hin und her. Unzufrieden betrachtete er sein Abbild. Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte etwas vergessen, nur was?
Der alte Meermann hatte bereits seine Uniformjacke an- und glattgezogen. Die Dienstmütze saß korrekt auf ihrem Platz auf dem Kopf und bedeckte damit die kleine kahle Stelle, die langsam zur Glatze wurde. Selbst die alte, lederne Umhängetasche, in denen sich die mehrere Flaschenpostflaschen befanden, hatte er sich bereits umgehängt.
»Ich bin mir ganz sicher, dass ich etwas wirklich Wichtiges vergessen habe, ich komme nur nicht darauf, was es ist.« Knut blickte sich verstohlen um, versicherte sich, dass gerade niemand in der Nähe war, obwohl er genau wusste, dass er allein war und hob seine Mütze an. Schnell kratzte er sich nachdenklich über die kleine Glatze und versteckte sie schnell wieder darunter. Noch während er seine Stirn in Falten legte und nachdachte, hörte der Flaschenpostbote eine Stimme, die aus einer der Schubladen neben dem Spiegel zu kommen schien.
»Hallo!«, sagte eine wirklich sehr, sehr tiefe Stimme, bei der man sich fragen konnte, was ein Bär oder ein Elefant im Flaschenpostamt in der Stadt unter dem Meer verloren hatte. Statt sich aber darüber zu wundern, begann Knut zu grinsen. Er zog eine Schublade auf und griff nach einem kleinen, orangen Seestern, den er auf die Brust setzte. Damit war er schon von Weitem als Flaschenpostbote zu erkennen. »Ich wusste doch, dass ich etwas vergessen habe. Hallo Enno.«
»Hallo!«, antwortete Enno mit dem einzigen Wort, dass er beherrschte.
»Wir sollten uns auf den Weg machen. Die Arbeit erledigt sich nicht von allein.« Knut verließ das Flaschenpostamt, schwamm zum Gehweg und holte die erste Flasche aus seiner Tasche. »Oh, nein, nicht schon wieder. Ich mag es überhaupt nicht, wenn ich zur alten Bohrinsel schwimmen muss. Dort leben nur Gauner, Halunken und Muscheln mit einem viel zu lockeren Mundwerk.«
Das Schimpfen und Meckern half nichts. Jemand hatte für die korrekte Auslieferung der Flaschenpost bezahlt, jetzt musste sie auch ans Ziel gebracht werden.
Gemeinsam verließen sie die Stadt, überquerten die weiten Seegraswiesen, überwanden eine tiefe Schlucht, deren Boden man nicht einmal erahnen konnte und erreichten schließlich eines der dicken Beine, auf denen die Bohrinsel stand. Als Adressat war Kalle Kegelrobbe angegeben, über den Knut schon viele Geschichten gehört hatte. Man sagte ihm nach, dass er in zwielichtige Geschäfte verwickelt war und immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Man hätte natürlich behaupten können, dass Kalle ein waschechter Verbrecher war, doch jeder, der dieses Wort in den Mund nahm, verschwand kurz darauf auf mysteriöse Art und Weise.
Knut wedelte kräftig mit seiner Schwanzflosse hin und her, bis sein Kopf die Wasseroberfläche durchstieß. Von hier aus konnte er nicht nur den Strand am nahen Ufer erkennen, sondern auch ein paar Möwen, die zu Kalles Männern gehörten. Eine von ihnen flog direkt los und stürzte sich dem Flaschenpostboten entgegen. Mit ihren Füßen griff sie nach ihm, zog ihn aus dem Wasser und trug ihn fort.
»Hey, lass das. Ich bin mit einem offiziellen Auftrag hierher gekommen. Ich soll Kalle eine Flaschenpost zustellen. Das kann ich aber nicht, wenn ich entführt werde.«
Die Möwe hörte nicht, oder wollte Knut einfach nicht hören. Sie setzte einfach ihren Flug fort.
»Ich bin seit vierzig Jahren im Dienst und habe noch nie einen Auftrag nicht erfüllen können, das soll sich auch heute nicht ändern.« Knut bewegte sich kräftig hin und her, versuchte sich aus den Füßen zu lösen. Das hatte zur Folge, dass der Vogel nur noch fester zugriff.
»Letzte Warnung! Wenn du mich nicht loslässt, greife ich zu unfairen Mitteln.«
Die Möwe lachte und hielt den Meermann weiterhin gepackt.
»Du hast es so gewollt.« Knut griff an die Vogelbeine und begann, sie zu kitzeln.
Augenblicklich lachte die Möwe noch mehr, hätte zu gern gekratzt, doch dafür fehlten ihr die nötigen Finger. Notgedrungen ließ sie ihre Beute fallen. Knut, der sich schon nicht mehr über dem Meer befand, stürzte schreiend auf den Sandstrand unter sich zu. Zu seinem Glück erwischte er den oberen Teil einer langgezogenen Düne, die er nun sanft herabgleiten konnte. Die schnelle Fahrt brachte ihn bis ins Wasser und zurück an das Bein der Bohrinsel.
»Post für Kalle Kegelrobbe!«, rief der Flaschenpostbote mit grimmiger Stimme und warf die Flasche empor, die polternd auf dem untersten Deck liegen blieb.
»Lieferung zugestellt! Auftrag erfüllt!«
Mit aufeinander gepressten Lippen verschwand Knut wieder im Meer.
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