1707. Weihnachtssterne

Weihnachtssterne

»Verdammtes Mistwetter.«
Es war nicht das erste Mal in dieser Nacht, dass Santa Claus zu fluchen begann. Normalerweise war das so gar nicht sein Ding, aber nun musste er seinen Frust rauslassen.
Meinst du nicht, dass es langsam Zeit für deine Spezialausrüstung wird? Wir könnten sonst noch vom Weg abkommen. Dann wäre das ganze Weihnachtsfest gefährdet und unzählige Kinder werden traurig vor den Weihnachtsbäumen sitzen.«
Rudolphs Stimme war im Tosen des Sturms kaum zu verstehen. Glücklicherweise hatte sich Santa Claus am Morgen noch einmal die Ohren gewaschen. Er grummelte und nickte. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass ihn hier oben in der Luft jemand sehen konnte, blickte er sich zu allen Seiten um. Sie waren allein.
Er griff in seine Manteltasche, holte eine Brille mit kleinen Scheibenwischern heraus und setzte sie sich auf die Nase. Zumindest blieben die unzähligen Schneeflocken nun nicht mehr an seinen buschigen Augenbrauen kleben und wurden zu den Seiten gewischt. »Wenigstens reicht meine Sicht jetzt bis zu deiner leuchtenden Nase, mein Freund. Hoffentlich kreuzt kein Flugzeug unseren Kurs. Ich sehe so unglaublich bescheuert aus. Diesen Anblick kann ich niemandem antun. Nachher bin ich schuld, wenn ein Pilot erblindet und abstürzt.«
Die Brille brachte nur wenig bis gar nichts. Ob Santa mit seinem Rentierschlitten noch auf Kurs war, konnte er nicht einmal mehr erahnen. Es gab in diesem dichten Schneetreiben keinen Anhaltspunkt zur Orientierung.
Santa Claus fluchte ein weiteres Mal, riss sich die alberne Brille aus dem Gesicht und warf sie hinter sich in den Schlitten. »Das Ding ist nur ein blödes Spielzeug und hilft uns nicht weiter. Ich brauche Sterne oder Wegweiser, sonst sind wir aufgeschmissen.«
»Hättest du mal auf deine Frau gehört und dir ein Navigationsgerät einbauen lassen. Dann wäre das alles kein Problem.«
Santa ließ für einen Moment die Zügel des Rentierschlittens los und hob die Hände. »Hallo? Sonst noch Wünsche? Wie soll ich denn das Display mit diesen dicken Handschuhen bedienen? Deswegen habe ich auch kein Smartphone. Oder willst du demnächst die Bedienung mit deiner Nase oder deinen Hufen übernehmen?«
»Ich bin ja schon still, Boss.«, antwortete das Rentier und begann zu lachen. Trotz der schlechten Witterungsverhältnisse, hatten sie ihren Humor nicht verloren.
Nach ein paar weiteren Minuten gab Santa auf. »Die Umwege sind vielleicht für unser Bonusmeilenkonto, aber wir werden die Geschenke nicht pünktlich los. Wir müssen landen und uns irgendwie anders orientieren. Da führt kein Weg mehr dran vorbei. Rudolph, es geht nach unten.«
Die Rentiere zogen an, wurden noch einmal schneller. Sie verließen die übliche Flughöhe und näherten sich schnell dem Boden. Nur wenige Meter vor dem Crash entdeckten sie den Boden und bremsten ab.
»Verdammt und zugenäht. Wo sind wir denn gelandet?« Santa hielt sich die flache Hand an die Stirn, um den Schnee abzuhalten und etwas erkennen zu können. »Wir sind viel weiter vom Kurs abgekommen, als ich dachte.« Direkt unter ihnen befand sich ein Deich, davor erstreckte sich der weite Ozean. »Noch ein paar Meilen weiter und wir hätten uns gar nicht mehr zurecht gefunden. Noch einmal Glück gehabt.«
Sie flogen langsam weiter, immer am Deich entlang, um etwas zu entdecken, dass ihnen auf den richtigen Weg verhelfen konnte, als plötzlich in der Ferne ein Licht auftauchte.
»Ha! Hab ich es doch gewusst, dass wir hier unten weiterkommen. Da vorne steht ein Leuchtturm. Der kann uns den Weg weisen. Hoffentlich ist jemand zuhause.«
Der Schlitten landete. Santa Claus sprang vom Schlitten und lief die letzten Meter. Bis er an die Tür klopfen konnte, hatte er bereits so viele Schneeflocken auf seinem Mantel gesammelt, dass er einem Schneemann hätte Konkurrenz machen können.
»Ähm, Boss.« Rudolph meldete sich verwirrt zu Wort. »Ich mache dich ungern auf einen Fehler in unserer Geschichte aufmerksam, aber wie hast du das gemacht? Nicht, dass es das auch einem unserer Leser auffällt und sich darüber beschwert.«
»Was meinst du?«
»Du hast die ganze Zeit im Schlitten gesessen, der weder Dach noch Windschutzscheibe besitzt, hast aber kaum Schneeflocken abbekommen. Deine Augen waren allerdings nicht vor ihnen geschützt. Kaum bist du ausgestiegen, schaut dein Bauch aus wie ein Schneehügel.«
Santa blickte an sich herab und zuckte mit den Schultern. »Machst du dir echt über solche Kleinigkeiten Gedanken? Keine Ahnung. Das wird bestimmt in einer anderen Geschichte aufgeklärt. Jetzt haben wir Wichtigeres zu tun.«
Er wollte klopfen, doch noch bevor sein Handschuh die Tür berührte, öffnete sich diese und der Kopf einer kleinen Person lugte hervor.
»Komm schnell rein, bevor die ganze Wärme nach draußen flüchtet.«
»Hä?« Santa kratzte sich am Kopf. »aber wie …?«
»Ich habe dich bereits erwartet. Und nun komm endlich rein, bevor sich die Wärmepumpe wieder über ihre Überstunden beschwert.«
Santa spürte eine Hand an seinem Mantel. Er wurde hereingezogen. Dann flog die Tür mit einem lauten Knall zu.
Nachdem ihn nun keine Schneeflocken mehr irritieren und stören konnten, sah er klarer. Vor ihm stand eine kleine Frau in einem langen, aus Algen gewebtem grünen Kleid. »Was? Du? Wie kommst du hierher?«
Die kleine Meerhexe, die er schon oft im Sommer getroffen, beziehungsweise schon oft vom Strand aus in den Fluten gesehen und ihr zugewunken hatte, grinste ihn schelmisch an. »Mich hast du hier wohl nicht erwartet.«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Das ist mal eine tolle Überraschung.«
Sie geleitete ihren Gast durch eine weitere Tür und bot ihm einen Sessel zum Sitzen an. »Bevor wir es uns hier gemütlich machen, habe ich eine Frage. Geht es deinen Rentieren dort draußen gut oder sollen wir sie ebenfalls ins Warme holen.«
»Alles in bester Ordnung. Sie lieben Schnee und Kälte, sie das von Kindesbeinen an gewohnt.«
Sie setzten sich. Auf dem kleinen Tisch vor ihnen dampften zwei Tassen heiße Schokolade, die Santa Claus vorher nicht gesehen hatte. Waren sie etwa gerade erst aus dem Nichts erschienen?
»Mit extra vielen süßen Marshmallows, wie du es gern magst.«
Sie nahmen sich eine Minute des Schweigens und genossen die Schokolade, die sofort Körper und Herz von innen wärmten.
»Du bist gekommen, weil du meine Hilfe brauchst.« Es war keine Frage der kleinen Meerhexe, mehr eine Feststellung. »Nun guck mich nicht so überrascht an. Das hab ich schon vor ein paar Stunden in meiner Zauberperle gesehen.«
»Dann hast du also auch schon eine Lösung für mein kleines Problem?« Santa schaute sich um, obwohl er genau wusste, dass Rudolph ihn weder sehen, noch hören konnte. »Hast du vielleicht ein Navigationssystem im Schrank oder ein Smartphone mit passender App? Ich kann die zwar kaum mit meinen dicken Handschuhen bedienen, bin aber für jede Hilfe dankbar.« Er senkte die Lautstärke seiner Stimme bis zu einem Flüstern. »Rudolph muss es ja nicht erfahren.«
Die Meerhexe nickte und schüttelte den Kopf. »Ja und nein. Ja, ich werde dir helfen. Nein, ich habe keinen technischen Krimskrams im Schrank. Ich habe dafür einen wundervoll funkelnden Sternenhimmel für dich vorbereitet, der auch bei schlechtestem Wetter für dich da ist.«
Santa Claus legte die Stirn in Falten und zog eine Augenbraue hoch. »Hä? Wie soll das gehen? Da draußen tobt ein Sturm und dicke Wolken verdecken den Himmel. Das muss schon ein ganz gewaltiger Zauber sein.«
»Nun sei mal nicht so pessimistisch, du alter Grummelbär.« Die Hexe nahm ihren Gast an der Hand und zog ihn hinter sich her. »Vertrau mir einfach. Mit dem Zauber des Meeres bekommen wir dich und deinen Schlitten schon wieder auf Kurs.«
Kaum hatten sie den Leuchtturm wieder verlassen, mussten sie mit allen Kräften gegen den Sturm ankämpfen.
»Wir müssen an die Wasserkante runter.«, rief die Hexe so laut sie nur konnte.
Santa Claus nickte, griff kurzerhand nach der Hexe und nahm sie sich unter den Arm. »Umso schneller kommen wir vorwärts.«
Sie erreichten den Strand, blieben direkt vor dem Wasser stehen. Die Meerhexe streckte ihr Arme aus, bewegte langsam ihre Fingern im Takt der Wellen und murmelte ein paar unverständliche Wörter in einer Sprache, die Santa Claus nicht kannte.
Plötzlich wurde das Wasser still. Die Wogen glätteten sich. Es war, als hätte jemand eine Glasscheibe zwischen Himmel und Meer gelegt, die beide voneinander trennte.
Unzählige kleine, kaum wahrnehmbare Lichter tauchten unter der Oberfläche auf, durchbrachen sie und schwebten zum Himmel hinauf.
»Das sind Seesterne. Jeder einzelne von ihnen hat eine kleine Lampe bei sich. Sie haben Sternenkarten studiert und werden nun die Sternbilder, die dir bekannt sind, nachstellen. Du wirst dich an ihnen orientieren können und findest sicher auf den richtigen Flugkurs zurück. Sie bleiben so lang dort oben, bis das Weihnachtsfest vorbei ist und du sicher wieder Zuhause bist.«
Santa Claus war baff. So eine tolle Hilfe hätte er niemals erwartet. Er wischte sich Freudentränen aus den Augen und hob sie hoch. »Du bist die Allerbeste.« Er drückte sie kurz an sich, bevor er sie wieder absetzte. »Dann mache ich mich mal ganz schnell auf den Weg, damit ich die verlorene Zeit wieder aufhole.« Er drehte sich um, blieb kurz stehen. »Weißt du was? Wenn ich schon hier bin, hole ich schnell dein Geschenk aus dem Schlitten. Du bist dieses Jahr die Allererste, die beschenkt wird.«
Einen Moment später stand er seiner kleinen Helferin mit einem bunten Päckchen wieder gegenüber. »Frohe Weihnachten, kleine Meerhexe.«
»Frohe Weihnachten, Santa Claus.«

(c) 2025, Marco Wittler

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