Der verstauchte Knöchel
oder »Papa, was macht Santa Claus, wenn Rudolph den Schlitten nicht ziehen kann?«
Papa stand an der Kasse und versuchte irgendwie, die letzten Einkäufe vom Band in den Wagen zu befördern, ohne seine Tochter Sofie komplett darunter zu vergraben. »Ich glaube, unter deinem linken Ellbogen ist noch ein klitzekleines Plätzchen frei.« Er zahlte und versuchte, den Wagen unter größter Kraftanstrengung in Bewegung zu versetzen.
»Und jetzt mit Lichtgeschwindigkeit zum Auto!«, rief Sofie begeistert und lachte laut auf. »Wir werden selbst Santa Claus in seinem Schlitten überholen.«
Tatsächlich wurden sie immer schneller. Papa umrundete in einem wilden Slalom die anderen Menschen im Supermarkt, zumindest stellte Sofie sich das so vor, denn in Wirklichkeit war dieser Bereich leer, sonst wäre die Fahrt auch viel zu gefährlich gewesen. Sie erreichten in Windeseile den Parkplatz, über dem bereits unzählige Sterne funkelten. Erst vor dem Auto blieben sie stehen.
Sofie betrachtete nachdenklich den Kofferraum und fragte sich, wie der Einkauf darin Platz finden sollte. Das konnte unmöglich alles hineinpassen.
»Und jetzt ein todesmutiger Sprung in den Abgrund!« Sofie stand auf, kletterte über die Metallstangen des Einkaufswagens hinweg und ließ sich auf den Asphalt fallen. In diesem Moment rauschte ein langer Lichtblitz, der einer übergroßen Sternschnuppe glich, über den klaren Himmel hinweg.
»Autsch!« Die helle Erscheinung hatte für genug Ablenkung gesorgt. Sofie kam unglücklich auf, knickte um und verstauchte sich den Knöchel. »Doofe Idee. Ganz, ganz doofe Idee.« Sie hockte sich hin und rieb vorsichtig mit der Hand über die schmerzende Stelle. »Warum muss mich das Licht auch so sehr ablenken?«
Sie blickte wieder auf. »Hm. Was ist, wenn das gar keine Sternschnuppe, sondern Santa Claus in seinem Schlitten war? Es hat nämlich viel zu lange geleuchtet.«
Papa hockte sich nun auch hin und bot seiner Tochter seine helfenden Hände an. »Ist es sehr schlimm? Ich hoffe nicht. Ich trag dich ins Auto. Dann musst du den Fuß nicht zu sehr belasten.«
Doch Sofie schob seine Hände weg und sah weiterhin nach oben. Sie dachte nach und Papa wusste genau, dass sie ihm gleich eine Frage stellen würde.
»Papa, was macht Santa Claus, wenn Rudolph den Schlitten nicht ziehen kann? Das kann doch so schnell passieren? Stell dir nur vor, er würde sich den Huf verstauchen. Fällt dann etwa Weihnachten aus?«
Papa, legte die Stirn in Falten und kratzte sich am Kinn. »Das ist eine sehr gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von Rudolphs empfindlichen Hufen. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht. »Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten Es war einmal.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«
Es war einmal ein alter, großer, rundlicher Mann mit einem langen weißen Bart, dem die Kinder dieser Welt so sehr am Herzen lagen, dass er einmal im Jahr eine lange beschwerliche Reise auf sich nahm, um sie alle nacheinander zu besuchen.
Santa Claus, so lautete sein Name, stand gerade vor seinem großen Haus am Nordpol und stopfte seinen Schlitten mit unzähligen Geschenken voll. Ihm zur Seite standen dutzende Wichtel, ohne deren Hilfe er das alles gar nicht schaffen würde.
»Das war es. Der Schlitten ist voll.« Er überprüfte ein letztes Mal die Geschirre seiner Rentiere und die richtige Länge der Zügel, bevor er selbst in seinem großen Gefährt Platz nahm. »Wir sind abflugbereit. Hoffentlich erwischt uns dieses Jahr nicht wieder so ein grässlicher Schneesturm. Das hat unseren Zeitplan um Stunden verzögert.« Er winkte den Wichtel noch einmal zum Abschied und brauste in Windeseile davon.
Vom Nordpol aus war es ein lange Strecke bis zur ersten Stadt. Bis dahin gab es nur Schnee, schneebedeckte Berge und unter Schnee vergrabene Bäume zu sehen.
Santa Claus warf einen Blick auf die Karte, fuhr mit dem Finger umständlich die Straßen und Grenzen ab. »Ich schwöre es euch. Für nächstes Jahr baue ich ein Navigationssystem in den Schlitten ein. Ich finde mich nicht schnell genug zurecht. Zumindest weiß ich, dass wir noch mindestens eine Stunde vom ersten Ziel entfernt sind.« Er sah auf seine Uhr, nickte sich selbst zur Bestätigung zu. »Dort vorn auf der freien Ebene werden wir einen kleinen Zwischenstopp einlegen. Ich muss mal für kleine Weihnachtsmänner. Hätte ich mal vor dem Abflug nicht so viel Kaffee getrunken.«
Der Schlitten ging tiefer, sauste knapp über die letzten Baumwipfel hinweg und landete sanft auf dem unberührten Schnee. »Ihr könnt abbremsen und anhalten.«, rief Santa den Rentieren zu, doch kaum hatte er gesprochen, stolperte Rudolph, sein Leittier und stürzte unsanft zu Boden. Die anderen fielen über ihn und wären beinahe vom Schlitten überfahren worden.
Santa Claus sprang aus dem Schlitten. »Rudi, was machst du denn für Sachen? Geht es dir gut?«
Rudolph schüttelte den Kopf und sah Mit schmerzverzerrtem Gesicht an sich herab. »Ich bin über etwas gestolpert, das knapp unter der Schneedecke versteckt liegt. Ich glaube, ich habe mir den Knöchel verstaucht.« Er versuchte aufzustehen, es gelang ihm aber nicht. »Ich … ich kann nicht. Ich werde den die anderen nicht anführen, den Schlitten nicht mehr ziehen können.«
Santa lief es eiskalt den Rücken herunter. So einen Ausfall hatte es in all den Jahren noch nicht gegeben. Trotzdem würde er den Flug mit sieben Rentieren weiter durchführen können. »Du kommst zu mir in den Schlitten. Die anderen schaffen das schon. Sind wir halt etwas langsamer und länger unterwegs.« Doch schon beschwerten sich die anderen sieben Rentiere über Schmerzen in den Knöcheln. Es hatte sie alle erwischt.
Santa Claus nahm seine Mütze ab, fuhr sich nervös durch sein Haar. Sie standen hier mitten in der Wildnis, weit weg von jeder menschlichen Besiedlung. Sie kamen von hier nicht ohne Hilfe weg. »Hätte ich doch nur auf meine Frau gehört und mir ein Hand gekauft, dann könnte ich jemandem Bescheid geben. Warum wehre ich mich nur ständig gegen diesen neumodischen Kram?«
Da saßen sie nun zu neunt im Schnee und rieben sich gegenseitig die schmerzenden Stellen, als Santa etwas ins Auge fiel. »Moment mal. Rudi, sagtest du nicht, dass du über etwas gestolpert bist, das unter dem Schnee verborgen liegt? Ich glaube, ich habe das etwas gefunden.«
Er stand auf, lief ein paar Meter hinter den Schlitten und grub etwas aus. »Sapperlot. Das ist ein Ei und es ist riesig groß.« Er grub weiter, versuchte seinen Fund zu heben, doch es war viel zu schwer. »Welches Ungetüm legt so riesige Dinger? Das kann doch nur ein …«
»… ein Dinosaurier sein.«, donnerte eine laute Stimme aus dem Wald.
Bäume wurden umgerissen, zur Seite geknickt und entwurzelt. Ein riesiger Schädel kam aus dem dunklen Grund hervor. Ihm folge ein massiger Körper und ein kraftvoller Schwanz, der sogar den großen Schlitten in den Schatten stellte. Es war ein Tyrannosaurus Rex und er schien ziemlich sauer zu sein.
»Wo ist mein Baby? Hat dir der böse Mann mit seinen dürren Zugtieren weg getan?«
Die Dinomama wollte das Ei aufheben, allerdings blieb es nur beim Versuch. Ihre viel zu kurzen Arme reichten einfach nicht bis zum Boden herab. Sie schüttelte genervt den Kopf. »Das kommt dabei raus, wenn Kinder nicht auf ihre Mama hören und bei der ersten Gelegenheit weglaufen.«
Santa Claus legte die Stirn in Falten. »Hä? Das ist ein Ei. Wie kann es weglaufen?«
Die Dinomama schüttelte den Kopf. »Frag nicht. Ist ne lange Geschichte. Jetzt muss ich den kleinen Ausreißer irgendwie nach Hause bekommen, weiß aber nicht wie.« Sie schielte zum Schlitten. »Hast du vielleicht eine Idee?«
Santa Claus lachte grimmig. »Ich würde euch gern mitnehmen, aber beim Zusammenstoß mit dem Ei haben sich meine Rentiere verletzt. Sie können nicht laufen und nicht fliegen. Wir sitzen hier fest.«
Die große T-Rex Dame dachte nach, überlegte und begann schließlich zu grinsen, was bei ihren großen, scharfen Zähnen ziemlich bösartig wirkte.
»Ich übernehme den Schlitten. Ein paar meiner Freunde werden uns helfen. So kommt ihr hier weg und wir können mein Ei nach Hause bringen.«
Santa hielt ihr eine Hand hin. »Deal. Schlag ein.«
Sie nickte, reichte ihm eine Pranke und warf den viel kleineren Mann in den Schnee.
Wenige Minuten später raste der Schlitten durch die verschneite Landschaft, gezogen von acht riesigen Tyrannosaurus Rex, die laut brüllend für einen freien Weg sorgten, während Santa Claus und seine Rentiere gemütlich im Schlitten Platz genommen hatten. In diesem Jahr waren sie sogar eine ganze Stunde schneller mit ihrer Weihnachtsroute fertig.
»Wie? Was« Sofie hatte große Augen bekommen. Der Mund stand ihr sekundenlang auf. »Die Dinos haben den Schlitten gezogen?«
Papa nickte, während Sofie zu lachen begann.
»Das war eine wirklich schöne Geschichte, aber ich glaube dir davon kein einzige Wort.«
In diesem Moment erblickte sie wieder diesen langgezogenen Lichtblitz, der von einer Seite des Horizonts zum anderen flog, während ein lautes, markerschütterndes Brüllen den Parkplatz erfüllte.
Sofie zuckte zusammen. War an der Geschichte doch etwas dran? Flog Santa Claus heute Nacht wieder mit den Dinos zum Weihnachtsfest oder hatte nur jemand ein viel zu großes Auto aufheulen lassen? Sie war sich nicht sicher. Dafür war sie sich aber ziemlich sicher, dass ihre Geschenke pünktlich unter dem Baum liegen würden.
(c) 2025, Marco Wittler
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