1710. Roselotte Brombeergeist rettet einen Stern

Roselotte Brombeergeist und der kleine Stern

Die Nacht war über dem finsteren Wald hereingebrochen. Die Sonne war schon vor einer Weile verschwunden und nun funkelten die Sterne am Firmament. Gerade ging der Vollmond hinter dem Horizont auf und warf sein fahles Licht auf die Erde. Es konnte sich nur noch um wenige Augenblicke handeln, bis …
Und dann war es auch schon so weit. Ein erster, zaghafter Lichtstrahl traf auf eine kleine Lichtung, die sich mitten zwischen dicht stehenden Bäumen und Büschen befand. Die kleinen Blumen, die den Tag über reglos aus dem Schnee geschaut hatten, öffneten nun eine nach der anderen ihre weißen Blüten.
»Hey, Moment mal!«, mischte sich eine kleine, empörte Stimme aus dem Hintergrund ein und unterbrach die Geschichte. »Was bist du denn für ein Erzähler? Ich dachte, es soll heute um mich gehen. Stattdessen ist nun von Blumen die Rede.«
Der Erzähler räusperte sich, lächelte verlegen und versuchte sich zu erklären. »Jede Geschichte braucht ihren Anfang und einen Ort, an dem sie stattfindet. Dass es darin um dich gehen soll, wollte ich noch ein wenig geheim halten, denn du bekommst einen Überraschungsauftritt, mit dem die Leser nicht rechnen. Deswegen möchte ich dich bitten, noch ein wenig Geduld mit mir zu haben. Du bist gleich dran. Versprochen.«
»Ja, ist in Ordnung. Aber vergiss mich bitte nicht.«
»Nein, wie könnte ich? Du bist heute nämlich die Hauptattraktion. Ohne dich würde meine Geschichte keinen Sinn machen. Darf ich nun fortfahren?«
»Du darfst.«
»Vielen Dank.«
Der Erzähler überlegte kurz. Wo war er stehengeblieben, wo unterbrochen worden? Ach, ja.
Nach und nach öffneten die Blumen ihre kleinen, weißen Blüten und gaben den Blick frei auf die noch kleineren Bewohner, die in ihnen hausten und leise schliefen. Nur hier und da wurde ein wenig geschnarcht.
Kurz darauf erwachte ein erster Geist. Müde reckte und streckte er sich, schwebte in die Höhe und sah sich um. Schon bald gesellten sich die anderen dazu, bis die Lichtung von kleinen, schwach schimmernden Lichtern erfüllt war. Alle waren sie, bis auf einen letzten Geist.
»Wo ist eigentlich Roselotte Brombeergeist?«, fragte der Oberste der kleinen Gemeinschaft. »Hat jemand von euch Roselotte Brombeergeist gesehen? Schläft sie etwa noch?«
Er schwebte zur einer Blume, die sich etwas abseits befand. Je näher er kam, desto lauter wurde das Schnarchen darin.
»Roselotte Brombeergeist, der Vollmond ist aufgegangen. Es ist Zeit aufzustehen.«
Das kleine Geistermädchen erwachte, zog sich aber sofort ihre Decke bis zur Nase hoch. »Aufstehen? Auf gar keinen Fall. Ich will doch nicht zu einem Eiszapfen gefrieren. Ich bleibe in meiner Blume. Ist mir egal, was der Vollmond davon hält.«
»Roselotte …«, wollte der Oberste sie erneut ansprechen, als sie mit rotem Kopf hochfuhr.
»Und ich mag es nicht, wenn man mich mit meinem vollen Namen anspricht. Ihr sollt mich Lotti nennen.« Sie hielt inne, begann zu zittern und flüchtete sich schnell wieder unter ihre Decke. »Brrr, ist das kalt hier draußen. Meinetwegen könnt ihr eure Geistersachen machen, die ihr heute Nacht zu erledigen habt. Ich jedenfalls bleibe bis zum Frühling hier und halte mich warm.«, sagte sie und verschwand komplett unter ihrer Decke.
»Meine liebe Rose…, Ähm, Lotti.«, versuchte der Oberste sie zu beschwichtigen. »Du wirst dich schon an die Kälte gewöhnen. Das ging uns allen in unserem ersten Winter so.«
Lotti kam wieder unter ihrer Decke hervor, wollte ihm etwas antworten, als ein helles Licht über den Himmel zog und sie ablenkte.
»Ist es jetzt so weit?«, fragte die Stimme im Hintergrund. »Habe ich jetzt meinen großen Auftritt?«
»Ja.«, bestätigte der Erzähler mit einem Lächeln. »Jetzt bist du dran und wirst Teil meiner Geschichte.«
Die Stimme jubelte, kam aus der Dunkelheit hervor, begann hell zu strahlen und machte sich auf den Weg, einer Sternschnuppe gleicht einen langen Schweif über das Firmament zu ziehen.
»Was ist denn das?«, flüsterte Lotti ehrfürchtig und blickte dem Licht hinterher, bis es hinter den Bäumen verschwand und es kurz darauf im Dickicht des Wald krachte und knackte.
Der oberste der Geistergemeinschaft war völlig überfragt. »Ich lebe nun schon so lange in diesem Wald und kann mich kaum noch an den Moment meiner Geburt erinnern, aber von so etwas habe ich auch noch nie gehört, geschweige denn mit eigenen Augen gesehen.«
»Dann werde ich mich auch den Weg machen und danach suchen. Irgendwo muss es ja gelandet sein.«
Lotti schlug ihre Decke zur Seite, ignorierte die Kälte, die nun von jeder Seite auf sie zukam und kletterte vorsichtig am Stängel ihrer Blume zu Boden. Auf ihren schweren Stiefeln, die sie an den Füßen trug, marschierte sie langsam durch den Schnee und zog dabei eine Schneise durch die weiße Pracht. Wieder einmal wurde ihr bewusst, dass sie dank ihrer Ungeduld viel zu früh geboren worden war und über keine der typischen Geistereigenschaften verfügte. Nach ein paar Minuten erreichte sie den Rand der Lichtung und trat in den finsteren Wald ein. Hier war der Schnee glücklicherweise nicht ganz so hoch und es ging schneller vorwärts.
Lotti kletterte über Stock und Stein, musste immer wieder dichte Büsche umrunden und überquerte mit einem alten Eichenblatt einen plätschernden Bach, in dem sie sich sonst nur nasse Füße geholt hätte.
»Jetzt kann es nicht mehr weit sein.«
Tatsächlich schimmerte ein Licht zwischen den Bäumen und Büschen hindurch. Lotti stand kurz darauf auf einer neu entstandenen Lichtung, in deren Mitte ein Krater im Boden entstanden war. An seiner tiefsten Stelle lag das leuchtende Etwas.
»Das ist ein Stern.«, entfuhr es dem Geistermädchen überrascht. »Das ist ein echter Stern. Er muss vom Himmel gefallen sein. Wie konnte das nur passieren?«
Nun meldete sich auch der kleine Stern erstmals zu Wort, während er mühsam auf die Beine kam. »Ich …« Er überlegte, war sich selbst nicht sicher, wie ihm geschehen war. »Ich wollte auch einmal der Weihnachtsstern sein, über das Firmament hinweg fliegen und den Menschen am Boden Hoffnung schenken. Irgendwie ist das ganz schön schief gelaufen.« Mit zittrigen Knien kletterte er aus dem Krater und blieb vor dem Geist stehen. »Ich bin Sterni. Wer bist du?«
»Ich bin Roselotte Brombeergeist, aber du kannst mich Lotti nennen. Ich habe dich abstürzen sehen und habe mir gedacht, dass du bestimmt Hilfe brauchst, um deinen Platz am Himmel zu finden. Deswegen habe ich nicht lang nachgedacht, sondern bin hierher gekommen.«
»Ich weiß nicht wie.« Der Stern sah an sich herab. Sein Blick fiel auf seine kurzen Beine. »Ich bin zu klein, um nach oben zu kommen. Es gibt auch keine Leiter oder Treppe. Ich glaube, ich bin hier gestrandet.« Er begann zu weinen. »Jetzt werde ich nie zum Weihnachtsstern, der den Menschen Hoffnung schenkt.«
Lotti trat einen Schritt vor, legte ihre Arme sanft um den Stern und drückte ihn an ihre Brust. »Ich glaube, Hoffnung ist auch etwas, das du gebrauchen kannst. Vielleicht fällt mir da noch etwas ein. Aber zuerst nehme ich dich mit zu meiner Lichtung. Dort können wir gemeinsam etwas überlegen.«
»Wir haben aber nicht so viel Zeit.« Der Stern zeigte auf seinen Körper. »Mein Licht verblasst langsam. Wenn ich nicht bald aufhören kann, traurig und verzweifelt zu sein, wird mein Licht erlöschen und ich vergehen.«
»Dann müssen wir uns beeilen.«
Sie brachen auf. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wurden die beiden so unterschiedlichen Gefährten schneller. Wie kleine Schneepflüge sausten sie durch den Schnee und erreichten die Lichtung mit letzter Kraft.
»Ich befürchte, dass wir zu spät sind. Ich kann nicht mehr. Der Weg hierher hat meine letzten Kräfte aufgezehrt.« Der Stern vergoss eine letzte Träne, dann erlosch sein Licht.
»Nein, nein, nein!« Lotti griff nach dem Stern schüttelte ihn, drückte ihn. Er blieb dunkel wie die Nacht. »Wir haben es fast geschafft, du darfst nur jetzt nicht aufgeben. Schlaf bitte nicht ein.« Er konnte sie nicht hören. »Wenn du keine Hoffnung mehr in die trägst, dann schenke ich dir meine. Du hast sie nötiger als ich.«
»Roselotte Brombeergeist, lass das. Denk nicht mal dran.« Der oberste Geist wollte sie festhalten, von ihrer Idee abbringen, aber es war bereits zu spät. Er konnte nur noch durch sie hindurchgreifen.
Lottis Geisterkörper wurde heller und durchscheinender. Sie verwandelte sich in ein kleines Wölkchen aus tausenden Glitzerpartikeln, die wie eine ganze Galaxie leuchteten, schwebte in dieser Form zum Stern und drang in ihn ein. Lotti verschwand.
Auf der Lichtung wurde es so still, dass man eine Schneeflocke hätte fallen hören können. Bange Sekunden vergingen, bis plötzlich der Stern wieder zu neuem Leben erwachte. Erschrocken sog er seine Lungen voll Luft und erstrahlte so hell, wie nie zuvor. Er übertraf damit sogar das Licht des Vollmonds.
»Ich habe Hoffnung.« Er blickte auf seine Hände hinab, besah sie sich von oben und unten. »Ich habe wieder richtig viel Hoffnung und weiß nun, was Lotti mit mir vorhatte.« Er schaute die Geister an, die ihn umringten. »Es tut mir leid. Ich würde gern noch bei euch bleiben, aber ich muss gehen. Ich muss einen Teil meiner Hoffnung den Menschen schenken, damit sie in dieser dunklen Jahreszeit nicht die Köpfe hängen lassen.«
Der Stern setzte sich langsam in Bewegung und einen Fuß vor den anderen, bis er sich sicher war, den restlichen Weg gehen zu können. Er steuerte eine hohe Tanne an, die am Rande der Lichtung besonders weit in die Höhe gewachsen war. Er griff nach dem Stamm und kletterte daran empor, als hätte er in seinem ganzen Leben nichts anderes getan. Er erreichte die Spitze, nahm darauf Platz. Sein Licht wurde noch einmal heller und strahlte bis in die letzten Winkel des finsteren Waldes hinein und sogar darüber hinaus bis ins Dorf.
Schon bald kamen nicht nur die Menschen zum Wald, auch die Tiere der Umgebung trieb die Neugierde hierher. Sie alle wollten den Stern sehen und neue Hoffnung für die kommende Zeit schöpfen.
Der Stern begann freudig zu lachen. »Ach, wenn du das nur sehen könntest, Lotti. Sie sind alle hier. Das haben wir nur dir zu verdanken, dir und deiner Hoffnung, die für eine ganze Welt gereicht hat.«
Sein warmes Licht verbreitete sich über jedes Lebewesen, das hierher gekommen war und es schien, als würden sie alle, egal ob Mensch, Tier oder Geist nun selbst von innen heraus strahlen. »Jetzt wird es Zeit, auch dir wieder Hoffnung zu schenken.« Er streckte die Arme in die Höhe und schüttelte sich. Die unzähligen Glitzerpartikel, die seinen Körper mit Leben gefüllt hatten, lösten sich, formten sich wieder zu einem Wölkchen, aus dem ein Geistermädchen entstand. Roselotte Brombeergeist war wieder da.
Lotti schwebte umher, sah auf ihre Artgenossen herab. »Schaut mich an. Ich schwebe. Endlich kann ich durch die Lüfte fliegen, wie ein richtiger Geist. All meine Hoffnungen haben sich heute erfüllt.«
Langsam sank sie herab, blieb knapp über dem Boden stehen. Sie sah sich um, blickte in die Gesichter der anderen Geister, die ihr anerkennend zunickten. »Aber jetzt wird es Zeit, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.«
Kaum gesagt, waren ihre Füße und auch die schweren Stiefel wieder da. »Was wäre eine echte Lotti ohne ihre Beine? So sehr ich mir das gewünscht habe, so wenig bin das ich selbst.«
Sie lachte laut, glücklich und voller Freude. Diese ganz besondere Nacht im Winter würde sie niemals wieder vergessen.

(c) 2025, Marco Wittler

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