1712. Der größte Milchzahn aller Zeiten

Der größte Milchzahn aller Zeiten

»Ho, ho, ho!«, schallte es über die verschneiten Hügel, die sich wie eine Kette um die kleine Stadt zogen. Es war endlich so weit. Santa Claus war im Anflug und würde schon bald auf dem ersten Dach landen, um Geschenke unter den bunt geschmückten Weihnachtsbäumen zu platzieren.
»Gleich geht es los! Rudolph, macht euch bereit!«
Die acht Rentiere, die den großen Schlitten durch die Lüfte zogen, wurden langsamer, gingen tiefer. Ihre Hufe setzten auf dem ersten Dachfirst auf. Sie hielten an.
Santa Claus befestigte die Zügel an einem Haken und drehte sich um. Ohne hineinzuschauen, griff er in den großen Sack und holte ein bunt verpacktes Geschenk hervor.
»Ich muss schon sagen, diese neue Erfindung meiner Wichtel ist grandios. Wenn ich daran denke, wie viel Zeit es mich gekostet hat, im Geschenkechaos das richtige Paket zu finden.« Er stand auf, wollte gerade zum Kamin balancieren, als ein gleißend helles Licht durch den Nachthimmel zog und hinter der nächsten Hügelkette zu Boden ging.
»Potzblitz! Das war aber eine helle Sternschnuppe. So eine Große habe ich in meinem langen Leben noch nie gesehen.« Es dauerte ein paar Sekunden, bis er seinen Blick wieder vom Nachthimmel lösen konnte und durch den Kamin hinabkletterte. Nur wenige Augenblicke später war er auch schon wieder da. »Weiter geht es.«
Die Rentiere hoben ab und setzte sich in Bewegung. Kaum gestartet, krachte es laut. »Verdammt nochmal, kannst du mit deinem riesigen Schlitten nicht aufpassen, du Verkehrsrüpel?«, war eine Stimme zu hören.
»Verkehrsrüpel? Was fällt dir ein?«, gab Santa Claus zurück und hoffte, dass er nur ein paar Kratzer im Lack vorfinden würde. »Ich geb dir gleich Verkehrsrüpel. Ich habe das Licht eingeschaltet und sogar den Blinker gesetzt. Ich habe alles richtig gemacht.«
Am Rand des Schlittens tauchte ein Kopf auf, gefolgt von einem Körper, der auf dem Rücken ein Paar durchsichtige Flügel trug, von denen einer einen Knick hatte.
»Du bist die Zahnfee!«, entfuhr es Santa Claus überrascht.
»Eine ziemlich ramponierte Zahnfee.« Sie rieb sich über die Stirn, auf der sich gerade eine Beule bildete. »Lichter und Blinker sind ja schon toll, aber du solltest daran denken, einen Schulterblick zu machen. Ich hatte Vorfahrt.«
Santa blickte verlegen auf seine Hände, schließlich nickte er schuldbewusst. »Das tut mir sehr leid. Ich habe nicht nachgedacht. Hast du dich verletzt? Geht es dir gut?«
Die Zahnfee schlug mit den Flügeln, wollte sich in die Luft erheben, bewegte sich aber nicht vom Fleck. »Mit dem geknickten Flügel wird das heute Nacht nichts mehr. Das dauert ein paar Tage, bis er wieder in Ordnung ist.« Sie seufzte. »Dabei wäre es gerade heute Nacht besonders wichtig, dass ich meinen Job mache. Es ist ein riesig großer Zahn ausgefallen, den ich bergen muss, bevor ihn jemand anderer findet.« Sie sah vom Weihnachtsmann auf dessen Schlitten und wieder auf ihn zurück. »Da ich wegen dir hier festsitze, wäre es nur fair, wenn du mich mitnimmst.«
Santa nickte schnell. »Nimm Platz. Wir holen den Zahn, dann bringe ich dich nach Hause. Die Geschenke müssen halt noch etwas warten. Mein neues System spart mir so viel Zeit, dass das noch drin ist.«
Er reichte ihr dir Hand, zog sie vorsichtig nach oben und setzte sie auf den Schlitten. »Es geht los. Ho, ho, ho!«
Die Rentiere zogen an, der Schlitten setzte sich in Bewegung und hob ab. Statt auf dem nächsten Haus zu landen, entfernten sie sich wieder von der Stadt und hielten auf die verschneiten Hügel zu.
»Es kann nicht mehr weit sein.« Die Zahnfee schloss ihre Augen und hielt ihre offenen Hände vor ihre Brust, als würde sie nur darauf warten, dass ihr jemand etwas geben würde. »Ich kann seine Präsenz spüren. Es ist als würde die Luft um uns herum zittern und vibrieren. Er ist noch sehr viel größer als alles, was ich bisher gesehen habe.«
Santa überlegte und fuhr sich mit der Zunge durch den Mund. »Wie groß können Zähne denn werden?«
Die Zahnfee öffnete kurz ihre Augen. »Die Zähne des Pottwals können 25 Zentimeter lang werden, so groß wie dein Kopf. Das Schwert des Narwals ist eigentlich ein Zahn. Der wird 2,70 Meter lang. Die längsten Zähne der Welt hat allerdings der Elefant. Seine Stoßzähne können über drei Meter lang werden.«
»Was?« Santa Claus stieß die Luft in seinen Wangen vor Überraschung aus. »Und ich dachte, ich hätte schon ein besonders großes Mundwerk.«
»Aber der Zahn, den wir suchen, ist um ein Vielfaches größer und schwerer. Ich habe ihn auf der anderen Seite der Welt spüren können. Dass habe ich noch nie zuvor erlebt.«
Sie überflogen einen Hügel und kamen fanden sehr schnell, wonach sie suchten. Etwas hatte eine große Menge Bäume entwurzelt oder deren Stämme gebrochen und eine breite Schneise der Verwüstung durch den Wald gezogen. Ein paar hundert Meter glühte es in einem tiefen Krater. »Das muss der Zahn sein.«
Sie suchten sich eine nahe Lichtung, auf der der Schlitten gefahrlos landen konnte. Santa Claus und die Zahnfee stiegen aus und stapften zwischen den Bäumen und Büschen auf die Absturzstelle zu. Am Kraterrand blieben sie stehen »Potzblitz! Was für ein Kaventsmann. Dagegen sind meine eigenen nur winzige Kieselsteine.«
»Sandkörner würde eher passen.«, ergänzte sie Zahnfee, während sie sich an den Abstieg machte.
»Aber wie willst du den denn bergen? Der ist zu groß und zu schwer. Der passt nicht mal in meinen Schlitten, wenn wir alle Geschenke ausladen.«
»Lass das mal meine Sorge sein. Ich habe meine Methoden.«
Nun war sie ganz nah dran. Sie hätte nur die Hände ausstrecken müssen, um den Milchzahn zu berühren, der mindestens zehn Meter groß war. Stattdessen griff sie an ihre Kette und öffnete die kleine Phiole, die daran hing. Ein feiner, weißer Nebel kam daraus hervor, der zu einer großen Wolke heranwuchs, die den Zahn nach ein paar Minuten vollständig in sich eingeschlossen hatte. Anschließend schrumpfte sie wieder in sich zusammen und verschwand im Kettenanhänger. Den Zahn hatte sie mit sich genommen.
»Was für eine krasse Technik.« Santa Claus war sichtlich begeistert. »Und wohin geht es nun?«
Die Zahnfee zeigte senkrecht nach oben. »Dort müssen wir hin. Diesen einzigartigen Milchzahn kann nur die Milchstraße verloren haben. Wir müssen ihr noch ein Geschenk als Dankeschön unter das Kopfkissen legen.«
»Die Milchstraße.«, murmelte Santa ehrfürchtig. »Das muss aber ein riesiges Kopfkissen sein. Nur was schenkt man ihr? Einen Taler für Sparschwein wird sie bestimmt nicht brauchen.«
Die Zahnfee lachte und winkte ab. »Natürlich nicht. Ich habe da etwas viel Besseres. Sie bekommt einen riesigen Strohhalm, denn nichts macht mehr Spaß, als damit ein Glas Milch durch die neue Zahnlücke zu trinken.«
Gemeinsam nahmen sie wieder auf dem Schlitten Platz, um sich bei der schlafenden Milchstraße für den großen Zahn zu bedanken.

(c) 2025, Marco Wittler

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