Weihnachten in Gefahr
Langsam kam Santa Claus zu sich und bereute es sofort, sich nicht noch etwas länger im Land der Träume aufgehalten zu haben, denn ein stechender Schmerz raste einmal quer durch seinen Schädel.
»Verdammt!«
Er versuchte sich zu erinnern, was er am Abend zuvor mit seinen Elfen unternommen hatte, konnte sich aber beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Hatte er mal wieder zu tief in seine Kakaotasse geblickt und war durch einen Zuckerschock ins Delirium gefallen? Die Erinnerungen waren mehr als verschwommen.
Santa Claus schlug die Augen auf. Nur einen halben Atemzug später flammten helle Lichter auf, die wie spitze Nadeln in seinen Schädel stachen und die Schmerzen weiter verstärkten. Er wollte sich wegdrehen, sich die Augen zuhalten, aber es ging nicht. Hände und Füße waren in schwere Ketten gelegt.
»Was soll der Blödsinn? Ich habe keine Zeit für solche Spielchen. In ein paar Stunden beginnt das Weihnachtsfest. Ich habe noch zu tun.«
Ein teuflisches, heiseres Lachen ertönte und ebbte nur langsame ab. »Du hast jetzt erstmal Pause.«, sagte eine unbekannte Stimme, deren Besitzer sich irgendwo hinter den Lampen befand und nicht zu sehen war. »Weihnachten fällt dieses Jahr erstmals aus.«
Santa Claus erschrak. »Aber … aber … aber …« Er rang nach den richtigen Worten. »Das kannst du nicht machen. Du weißt nicht, worauf du dich einlässt. Wenn ich keine Geschenke verteilen kann, wird es Weihnachten nie wieder geben. Das wird das ganze Gefüge aus den Angel reisen. Das gesamte Universum könnte implodieren.«
»Dann ist es eben so. Bringen wir dieses Elend, dass die Menschen Leben nennen, zu einem Ende.« Wieder dieses Schreckliche Lachen. Dann gab es einen Knall und erneuten Schmerz im Kopf. Um Santa Claus herum wurde es wieder dunkel und still.
NORAD
In der Zentrale der nordamerikanischen Luftüberwachung traf man die letzten Vorbereitungen. Sämtliche Satelliten, Radargeräte und Überwachungsflugzeuge mit denen man normalerweise die ganze Erde im Auge behielt, waren auf den Nordpol ausgerichtet worden.
»Wir sind startklar, Sir.« Die Koordinatorin hielt ihre linke Hand dicht über einen roten Knopf, den sie dieses Jahr zum ersten Mal würde drücken dürfen. »Wir warten nur noch auf ihr Kommando.«
Der General baute sich vor dem großen Wandschirm auf, der eine Weltkarte zeigte und blickte auf seine Armbanduhr. Langsam zählte herunter. »Fünf, vier, drei, zwei, eins. Jetzt!«
Der rote Knopf wurde gedrückt. Die Umrandung der Wanddarstellung, die normalerweise aus Zahlen, Daten und Koordinaten bestand, wechselte zu Tannengrün, bunten Kugeln und anderen weihnachtlichen Motiven. Zeitgleich begann eine Übertragung ins Internet.
Die Anwesenden starrten gebannt auf den Nordpol, auf dem sich nun ein Punkt in Bewegung setzen und damit die aktuelle Position von Santa Claus Schlitten anzeigen sollte. Der Punkt bewegte sich allerdings nicht. Das Gegenteil war sogar der Fall. Nach wenigen Sekunden verschwand er.
»Was hat das zu bedeuten? Wo ist er?«
An den Computerkonsolen wurde hektisch getippt. Systeme wurden überprüft, neu gestartet und ausgerichtet. Nichts. Der Schlitten war nicht aufzufinden.
»Verdammter Mist!« Der General fuhr sich nervös durch die Haare. »Wo ist der Weihnachtsmann? Wo ist Santa Claus?«
Als Antwort bekam er nur Schulterzucken.
»Wir müssen etwas unternehmen. Wir … wir … jemand muss Weihnachten retten.«
Da niemand einen Vorschlag machte, sah sich die Koordinatorin unsicher um, bevor sie die Hand hob. »Aber wer? Es gibt keine Telefonleitung zum Nordpol. Santa Claus hat nicht einmal ein Handy. Wir können ihn nicht erreichen.«
Dem General begann zu schwitzen. Ihm wurde so heiß, dass er seine Jacke auszog und auf den Boden schleuderte.
»Jetzt kann uns nur noch ein Superheld mit ganz dicken Muckis helfen.«
»Aber wer? Rufen wir Batman? Den unglaublichen Hulk? Meerjungfraumann und Blaubarschbube?«
Der General schüttelte den Kopf. »Leinwandhelden können weder die Welt retten, noch den Weihnachtsmann finden. Wir brauchen jemanden mit echten, mit stahlharten Muckis. Wir brauchen Froggy McMuscle. Ich werde ihn sofort kontaktieren.«
In der großen, geräumigen Bibliothek waren die elektrischen Leuchten abgeschaltet, nur ein paar Kerzen auf dem Adventskranz und das Feuer im Kamin spendeten etwas Wärme und Licht. In einem großen Ohrensessel saß ein grüner Frosch in einem weinroten, samtenen Abendmantel Monsieur Grenouille nippte hin und wieder an einem Glas Wasser und aß Fliegensnacks, während er in einem dicken Buch blätterte.
Neben der Tür klingelte das Telefon. Butler Auguste Cigogne, ein schlanker, hochgewachsener Storch, der einen eng anliegenden, schwarzen Anzug trug, trat aus dem Schatten und griff zum Hörer. Er sagte nichts. Auf der anderen Seite wusste man, dass man sprechen konnte. Er hörte zu, nickte mehrfach und blickte zum Frosch. »Er ist bereits auf dem Weg. Machen sie sich keine Sorgen. Weihnachten ist nicht in Gefahr.« Der Storch legte auf.
Monsieur Grenouille sah auf. »Darf ich raten? Wie immer ist nicht weniger als die ganze Welt in Gefahr. Nur wir können sie noch retten.«
Auguste nickte. »Nicht nur die Welt, es geht schlicht um das Gesamtgefüge des Universums.«
»Dann wird es Zeit, dass Froggy McMuscle die Bühne betritt.« Der Frosch stand auf, legte seinen Mantel ab, unter dem ein blauweiß gestreiftes Shirt zum Vorschein kam, das in einer roten Latzhose steckte. »Machen wir uns auf den Weg.«
Der Storch nickte, griff in seine Anzugtasche und holte eine Fliegerbrille hervor, die er sich auf die Stirn setzte. Gemeinsam begaben sie sich in den Keller, wo der geheime Flieger versteckt gehalten wurde. Sie stiegen ein und flogen durch einen langen Tunnel nach draußen in den Nachthimmel.
»Ich sage es immer wieder. Bei NORAD arbeiten nur Dilettanten. Die haben überhaupt keine Ahnung, wie man jemanden richtig ortet. Die würden es sogar übersehen, wenn der Mond auf die Erde stürzen würde.« Der Frosch zog sein Smartphone aus der Brusttasche seiner Latzhose, öffnete die WO IST App und wählte aus der langen Liste seiner Freunde Santa Claus aus. Wenige Sekunden später tauchte ein Punkt auf der Weltkarte auf. Überraschenderweise befand sich dieser an einem Ort, der nicht weiter weg vom Nordpol hätte sein können. Santa Claus befand sich am Südpol. »Muss das echt sein? Ich habe meine langen Unterhosen vergessen. Ich werde mir bei der Rettungsaktion bestimmt den Hintern abfrieren.«
Auguste konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, während er den Kurs anpasste und den Flieger zur Antarktis steuerte. Er schaltete den Turbo ein und kam wesentlich schneller voran, als es ein Düsenjet jemals könnte.
Eine Stunde hatten sie ihr Ziel erreicht. Mitten im ewigen Eis markierte eine lange, glänzende Metallstange den Südpol. Froggy McMuscle machte sich bereit. Er zog sich einen Fallschirm auf den Rücken, blickte zum Cockpit und wartete. Auguste drehte sich kurz darauf herum, hob einen Daumen hoch. Der Frosch öffnete die Ausstiegsluke und sprang ins Freie. »Geronimo« war das Letzte, was von ihm zu hören war.
Es ging steil und mit hoher Geschwindigkeit abwärts. Erst im letzten Augenblick zog er die Reißleine. Der Schirm öffnete sich und bremste den Frosch. Sanft landete er im tiefen Schnee und blieb dort stecken.
»Wie? Was? Wo?« Er versuchte sich zu befreien, was im aber nicht gelang, denn die Eiseskälte zog ihm in Sekundenschnelle in die Latzhose. »Ich hab es doch gewusst. Ich brauche meine Thermounterwäsche.« Ihm wurden die Füße blau und steif, dann die Beine, der Körper und der Kopf. Der unschlagbare Superheld, der es gewohnt war, jeden Gegner zu besiegen, wurde von seiner eigenen Natur geschlagen. Er fror ein, wie es jedem anderen Frosch im Winter auch geschah. Die Rettung von Santa Claus und dem Weihnachtsfest war gescheitert.
Santa Claus wurde wieder wach. Noch immer konnte er sich nicht bewegen. Sein Gegenüber aber wohl schon, denn gerade in diesem Moment wurde ein Monitor auf einem Rollständer in den Raum gebracht. Darauf war ein eingefrorener Frosch im Schnee zu sehen.
»Weihnachten ist gelaufen. Dein Rettungskommando hat versagt. Jetzt wird dich niemand holen kommen. Viel Spaß beim Ende des Universums. Du kannst all deine Hoffnung fahren lassen.«
Der andere ließ den Weihnachtsmann allein zurück.
»Wenn der wüsste. Es gibt noch eine andere Hoffnung.« Santa bewegte seinen Kopf hin und her, versuchte einen Ausweg zu finden. E spürte eine der Ketten an seiner Wange und begann zu grinsen. »Sie wird schneller hier sein, als dir lieb ist.« Mit Wucht knallte er seine Wange gegen die Kette und spürte den Schmerz, als einer seiner Zähne abbrach. Dann lachte er leise.
In einem weit entfernten Land, in einem Schloss, das einem Zahn sehr ähnlich sah, leuchtete auf einem Kontrollschirm ein rotes Licht auf. Gleichzeitig ertönte ein Signal, das in allen Räumen zu hören war.
»Oh!« Die Zahnfee legte ihr Strickzeug zur Seite, hüpfte aus ihrem Sessel und lief los. »Es gibt Arbeit!« Sie jubelte begeistert. Doch diese Begeisterung verschwand schnell, als sie sah, wohin sie die Reise führen würde. »Moment mal. Seit wann fallen am Südpol Zähne aus? Dort ist doch niemand außer ein paar Pinguinen. Die haben aber keine Zähne. Irgendwas stimmt da nicht. Ich sollte auf der Hut sein und auf mich aufpassen. Seit der Osterhase auf mysteriöse Weise verschwand, habe ich Angst vor einer Falle.«
Sie öffnete ein Fenster ihres Schlosses und flog los. Einen verlorenen Zahn musste sie einfach einsammeln. Das verlangte ihr Ehrenkodex. Daran führte kein Weg vorbei. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich so weite Strecken fliegen und so kalte Gebiete aufsuchen muss, hätte ich diesen Job niemals angenommen.« Sie kicherte. Als Zahnfee wurde man geboren, das suchte man sich nicht aus.
Nach ein paar Stunden hatte sie den Südpol erreicht. Mit einem Blick auf ein spezielles Ortungsgerät entdeckte sie schnell den genauen Standort des Zahns. In einem unterirdischen Bunker lag er auf dem Boden in einem Verlies. Die Daten, die über das Display liefen, waren so seltsam, dass sie ein ungutes Gefühl bekam. »Dieser Zahn gehört nicht irgendwem. Wenn alles stimmt, gehört er meinem guten, alten Freund Santa Claus.« Sie sah auf die Uhr. »Er sollte aber gar nicht hier sein. Es ist Weihnachten. Er sollte Geschenke verteilen. Das muss eine Falle sein. Ich brauche Hilfe.«
Die Zahnfee griff in ihre Tasche und holte einen Zahn hervor, der etwas anders war, als man ihn vielleicht gewohnt war. Er hatte zwei kleine Knopfaugen, ein breites Lächeln, Arme, Beine und ein rotes Cape umgebunden. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er knapp.
»Rette den Weihnachtsmann. Befreie Santa Claus.« Sie ließ ihren kleinen Helfer fallen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit dem gefrorenen Erdboden entgegen stürzte. Mit einem lauten Krachen schlug er durch die Decke des Bunkers und landete nur wenige Zentimeter neben Santa Claus.
Kurz darauf öffnete sich die Tür des Gefängnisses. Nun wurde auch die Person sichtbar, die das alles eingefädelt hatte. Es war der Grinch. »Was soll das? Wie ist das möglich? Du bist nur ein kleiner Zahn, wie kommst du hier herein?«
Der kleine Zahn hob die Arme und spannte seine Muskeln an. »Zahnschmelz ist so hart, damit durchbricht man jede Wand und Decke.« Er versetzte dem Grinch einen Schlag gegen den Unterkiefer und ließ ihn damit ohnmächtig werden. Erst dann befreite er den Weihnachtsmann von seinen Ketten. »Jetzt müssen wir nur noch den Osterhasen befreien, den vermute ich auch hier unten. Danach holen wir Froggy McMuscle aus dem Schnee. Der ist auf dem Weg zur Rettung nämlich eingefroren.«
Die Rettung war ein voller Erfolg. Um das Weihnachtsfest doch noch pünktlich zu einem guten Ende zu bringen und das Universum zu retten, übernahm Auguste Cigogne den Transport der Geschenke. Der hypermoderne Flieger konnte den Flug um die Erde in einem Bruchteil der Zeit erledigen. Währenddessen saßen sie alle zusammen. Santa Claus, Froggy McMuscle, die Zahnfee und der Osterhase wärmten sich auf und tranken heiße Schokolade mit Marshmallows, während der Grinch gefesselt an der nächsten Polizeiwache abgegeben wurde.
(c) 2025, Marco Wittler
Antworten