213. Wolli

Wolli

Wolli stand am Eingang des Parks und hob sein Bein. Endlich bekam er Erleichterung. Immerhin hatte er die letzte halbe Stunde Katzen und Vögel von den Gehwegen verscheucht. Nun war er erschöpft. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, legte er sich in den Schatten eines Baumes und machte es sich gemütlich.
Allerdings sollte er keine Ruhe finden. Es war einfach nicht möglich zu schlafen, denn auf einer nahen Bank saß eine weinende Frau.
»Oh nein, nicht schon wieder.«
Wolli drückte sich die Vorderpfoten auf die Ohren.
»Immer wieder das Gleiche.«
Er war genervt. Fast jeden Tag saß eine Frau hier und weinte. Er war sich sicher, dass auch sie einen Brief oder ein Handy in der Hand hielt.
»Ich muss wohl mal wieder den Glücksbringer spielen.«
Wolli stand auf, trottete zur Bank und setzte sich vor der Frau auf den Boden. Sie sah ihn nicht sofort. Deswegen legte er seine Schnauze vorsichtig auf ihr Knie und jaulte leise.
»Wer bist denn du?«, fragte die überraschte Frau.
Sie wischte sich die Tränen fort und streichelte dem Hund über den Kopf.
»Du hast es gut, mein Kleiner. Du hast keinen Freund, der mit dir Schluss machen kann. Meiner hat es sich nicht einmal selbst getraut. Er hat mir nur eine SMS auf mein Handy geschickt. So ein gemeiner Feigling.«
Wolli nickte nur. Er hatte es also genau richtig vermutet. Er lebte im Park der gebrochenen Herzen. Alle traurigen Frauen kamen hierher.
»Wenn ich doch bloß auf meine Freundinnen gehört hätte. Sie haben mich alle vor diesem Schuft gewarnt. Aber ich wollte ja nicht auf sie hören, weil ich so sehr verliebt gewesen war.«
Sie seufzte und begann erneut zu weinen.
Wolli seufzte ebenfalls. Schon wieder eine enttäuschte Frau. Es würde bestimmt noch Stunden dauern, bis sie mit dem Weinen aufhören würde. Es musste unbedingt etwas unternommen werden. Doch was?
Mit großen Augen sah er die Frau an und sie streichelte ihn erneut. Plötzlich öffnete Wolli seine Schnauze, schnappte sich ihre Handtasche und lief los. Er rannte durch den ganzen Park, jeden Fußweg entlang.
Die Frau Vergaß sofort ihre Tränen und lief dem flüchtenden Hund nach.
»Bleib stehen. Du kannst mir doch nicht meine Tasche stehlen. Komm zurück.«
Aber Wolli hörte nicht. Er lief und lief. Seine anfängliche Erschöpfung war vergessen. Die Idee, die sich in seinem Kopf gebildet hatte, trieb ihn an. Doch hinter der letzten Ecke fand er endlich, wonach er suchte.
Auf einer Bank saß ein Mann. In seiner Hand hielt er einen Brief, auf den seine Tränen tropften. Wieder ein gebrochenes Herz.
Wolli lief zu ihm, legte die Handtasche auf der Bank ab und verschwand.
»Wo ist dieser Hund?«
Die Frau kam in diesem Moment um die Ecke gebogen. Sie sah den Handtaschendieb gerade noch zwischen den Bäumen verschwinden. Dann erst fiel ihr Blick auf ihren Besitz.
Schnell lief sie zur Bank.
»Haben sie dem Hund meine Handtasche abgenommen?«
Der Mann wusste er nicht, ob er die Wahrheit sagen sollte. Schließlich behielt er sie für sich und nickte.
Die Frau zeigte fragend auf den Brief. Er nickte.
»Bin verlassen worden.«
»Ich auch.«, antwortete sie und zeigte ihm ihr Handy.
Sie wischten sich die letzten Tränen aus dem Gesicht, drückten sich die Hand und stellten sich dann vor.
Wolli beobachtete alles aus seinem Versteck heraus. Ein letztes Mal seufzte er. Diesmal war er allerdings nicht mehr genervt, sondern sehr mit sich zufrieden.
»Die Zwei werden bestimmt bald wieder sehr glücklich werden.«
Während die Menschen zusammen den Park verließen, rollte sich der Hund zusammen und schlief endlich ein.

(c) 2009, Marco Wittler

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