230. Ein Besuch beim Zahnarzt

Ein Besuch beim Zahnarzt

Schon am frühen Morgen saß Peter ganz unruhig auf seinem Bett, als er sich die Schleifen seiner Schuhe band. Immer wieder sah er auf die Uhr. Bedrohlich tickten die Zeiger im Kreis herum.
»Du kommst zu spät zur Schule. Beeil dich ein wenig.«, rief Mama aus der Küche.
Peter stand auf, schnappte sich Rucksack und Jacke und verließ damit das Haus.
Im Bus saß er auf seinem Stammplatz. Vom Sitz direkt hinter dem Fahrer konnte er genau beobachten, welche Knöpfe wann gedrückt wurden. Doch heute schien ihn das überhaupt nicht zu interessieren.
»Mensch, was ist denn mit dir heute los?«, fragte sein bester Emil.
»So still kenne ich dich gar nicht. Da stimmt doch was nicht.«
Peter nickte und öffnete seinen Mund.
»Ich habe einen Wackelzahn. Meine Mama will heute Nachmittag mit mir zum Zahnarzt, um das blöde Ding ziehen zu lassen.«
Emil bekam große Augen. Zahnarzt? Das konnte nur schlimm ausgehen. Von diesen Besuchen hatte er schon unheimlich viel gehört.
»Meinem Onkel musste mal ein Zahn gezogen werden. Der wäre dabei fast verblutet.«
Solche Geschichten wollte Peter nun gar nicht hören. Er hielt sich die Ohren zu und trat seinem Freund auf den Fuß.
In der Schule ging es dann so weiter, denn Emil hatte nichts Besseres zu tun, als allen anderen Kindern zu erzählen, dass heute jemand zum Zahnarzt gehen musste.
»Ich will ja keine Namen nennen, denn das wäre meinem besten Freund Peter gar nicht recht.«
Alle lachten. Und schon viel jedem etwas Schauriges ein, dass irgendwer schon einmal beim Zahnarzt erlebt haben sollte.
»Mein Vater kennt jemanden, der …«, begannen die Kinder zu berichten oder »Ich habe von einem Mann gehört, …«
Peter wurde es mit jeder Stunde flauer im Magen. Er wollte nicht, dass ihm ein fremder Mann die Finger in den Mund steckte und ihm höllische Schmerzen bereitete.
Nach der Schule verkroch er sich ohne Mittagessen sofort in sein Zimmer. Er überlegte ernsthaft, ob er sich unter dem Bett oder im Schrank verstecken sollte. Allerdings wusste er, dass es nur Minuten dauern würde, bis Mama ihn gefunden hatte.
Er fügte sich also in sein Schicksal und fuhr mit ihr eine Stunde später los.
Vor der Praxis wurde ihm schlecht.
»Ich glaube, ich werde krank. Ich sofort nach Hause ins Bett.«, flehte er Mama an.
Die verdrehte aber nur die Augen und öffnete die Tür.
Im Wartezimmer saßen nicht viele Leute.
»Das ist ja prima. Dann musst du nicht so lange warten.«, sagte  eine Helferin.
»In ein paar Minuten rufe ich dich auf und bringe dich dann ins Behandlungszimmer.
Peter schloss die Augen. Gab es jetzt noch eine Möglichkeit, heile hier heraus zu kommen? Doch als er seine Lider wieder öffnete waren die Zeiger auf der Uhr ein Stück weiter getickt und es war Zeit, sich um den Zahn zu kümmern.
›Sprechzimmer 3‹ stand an der Tür. Peter wurde hindurch geleitet und auf einem großen Stuhl platziert. Nur Sekunden später kam ein Mann in weißen Sachen herein.
»Hallo Peter, ich bin Doktor Schmidt.«
Sie schüttelten sich die Hände. Der Doktor kräftig, Peter recht ängstlich.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte der Zahnarzt.
»Weißt du was? Das geht mir auch immer so, wenn ich meine Zähne behandeln lasse. Dann leg ich mich immer zur Ablenkung in meinen coolen Pilotensessel, schließe die Augen und stelle mir vor, dass ich mit einem schnellen Düsenflugzeug durch den Himmel sause.«
Die Idee fand Peter klasse. Sofort schloss er seine Augen. Während er noch versuchte, sich in ein Cockpit zu denken, spürte er auch schon, wie sich der Sessel unter ihm auf und ab bewegte. Es war tatsächlich wie in einem echten Flugzeug.
Er sah sich um und stellte fest, dass der Behandlungsstuhl beweglich war. Er musste lachen.
Bei dieser Gelegenheit warf der Zahnarzt schon einmal einen Blick in den Mund des Jungen.
»Ach, da seh ich ja auch schon den Übeltäter. Milchzahn in vorderster Reihe. Der wackelt doch bestimmt schon eine ganze Weile und wartet nur darauf, endlich da raus zu kommen.«
Peter bekam wieder Angst. Sofort fiel ihm wieder eine der Geschichten aus der Schule ein. Ein Onkel eines Mädchens wurde mal ein Zahn mit einer riesigen Werkzeugzange gezogen. Jedenfalls hatte sie das gehört.
Peter schloss seinen Mund und schüttelte den Kopf. Durch die Lippen presste er ein paar kaum verständliche Worte heraus.
»Der Zahn wackelt gar nicht. Der muss noch nicht raus.«
Der Zahnarzt kratzte sich an der Stirn.
»Das ist ja komisch. Dabei sieht er sogar danach aus, als wäre er für sein nächstes Abenteuer bereit.«
Nun wurde Peter neugierig. Zähne erlebten Abenteuer?
»Weißt, du was? Ich werde dir davon erzählen. Du darfst es aber niemandem verraten.«, flüsterte der Zahnarzt.
Peter nickte stumm und sperrte seine Ohren weit auf.
»Wenn die Zähne bereit sind, aus dem Mund heraus zu kommen, dann springen sie entweder von allein heraus oder sie lassen sich von mir ziehen. Und dann gehen sie auf eine lange Wanderschaft, bis sie am eisigen Südpol ankommen. Dort, im ewigen Eis, spielen sie dann mit anderen Zähnen aus der ganzen Welt verstecken.«
Peter konnte sich nur zu gut vorstellen, wie schwierig es war, in weißem Schnee und Eis einen Zahn zu finden.
»Na gut, dann bin ich jetzt bereit. Holen sie das Ding aus mir raus.«
Er legte sich auf dem Behandlungsstuhl zurecht und öffnete seinen Mund. Der Zahnarzt holte eine kleine Sprühflasche hervor und hielt sie dem Jungen vor die Nase.
»Das hier ist ein Eisspray. Das muss man vorher auf den Zahn sprühen, damit er sich schon einmal an die Kälte gewöhnen kann. Das wird etwas eisig auf dem Zahnfleisch. Also erschreck dich bitte nicht.«
Es erklang ein kleines Zischen, dann wurde es kalt, als wenn Peter ein Eisbonbon gelutscht hätte.
Nun holte der Zahnarzt mit seinen Fingern den Zahn einfach heraus. Er zog kurz daran und weg war er.
»So, dann kann der kleine weiße Mann ja endlich auf Wanderschaft gehen. Hat es denn weh getan?«
Peter lachte und schüttelte den Kopf.
»Nicht ein bisschen. Ich hab gar nicht mitbekommen, dass der Zahn schon raus ist.«
Der Zahnarzt grinste.
»Und weißt du, was das Beste daran ist?«
Sobald du wieder zu Hause bist, kannst du dir einen Strohhalm durch die Lücke stecken. Denn mit geschlossenem Mund kann nicht jeder etwas trinken. Und zum Pfeifen ist das auch gut.«
Sie verabschiedeten sich lachend. Doch bevor Peter die Praxis verließ, rief ihm der Zahnarzt noch etwas nach.
»Und denk immer daran, dir deine Zähne zu putzen. Deine neuen Zähne, die bald wachsen, bleiben normalerweise länger drin, als ein Milchzahn.«

(c) 2009, Marco Wittler

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