329. Tschu-Tschuu

Tschu-Tschuu

Durch die schöne grüne Landschaft zogen sich ein paar Schienen. Eigentlich gehörten sie gar nicht hierher. Sie passten gar nicht in das malerische Bild, in diese unberührte Natur. Und doch hatte jemand vor langer Zeit eine Eisenbahnlinie hier gebaut.
Schon von Anfang an fuhr hier eine kleine Dampflok von einem Bahnhof zum anderen. Tag für Tag zog sie ihre Last, ein paar Waggons mit unzähligen Menschen hinter sich her. Und das war mehr als langweilig,
»Jeden Tag die gleiche Fahrt und die gleichen Menschen. Wie soll man denn da Spaß am Leben und dem Beruf finden?«, beschwerte sich die kleine Dampflok immer wieder.
Aber trotzdem änderte sich nichts an der Situation. Die Strecke blieb immer die gleiche.
Doch eines Tages sollte sich das ändern. In einem der Waggons saß eine Kindergartengruppe. Einer der Jungs saß die ganze Zeit am Fenster und sah hinaus.
»Warum fahren wir immer nur geradeaus?«, fragte er laut.
»Kann die Eisenbahn nicht mal im Kreis fahren oder um die Hügel herum kurven?«
Die Kindergartentante lachte.
»Nein, das geht nicht. Der Zug muss doch auf den Gleisen bleiben.«
Die kleine Dampflok hörte diesem Gespräch zu und fragte sich, ob es nicht vielleicht doch ganz einfach wäre, einmal woanders entlang fahren könnte.
Sie sah sich um, warf einen Blick in das Führerhaus. Der Lokführer war eingeschlafen.
»Was für ein Zufall. Vielleicht sollte ich mal ein kleines Abenteuer erleben.«
Und schon machte sie einen Sprung und landete neben den Schienen. Die ersten Meter rumpelte es ein wenig, doch dann kam sie richtig in Fahrt.
›Tschu-Tschuu.‹
Die kleine Dampflok tutete vor Freude mit ihrem Horn. Sie fuhr über Stock und Stein, kurvte an den Feldern vorbei, umrundete jeden einzelnen Hügel und grinste dabei, wie sie es nie zuvor in ihrem Leben getan hatte.
Die Fahrgäste im Innern der Waggons wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Auch wollten sie gar nicht glauben, was sie durch die Fenster sahen. Also versteckten sie sich lieber wieder hinter ihren Zeitungen und dachten nicht weiter darüber nach.
Nur ein kleiner Junge hing begeistert an der Scheibe und bekam gar nicht genug. Er jubelte, so laut er konnte.
Erst kurz vor dem nächsten Bahnhof sprang die kleine Dampflok zurück auf ihr Gleis und rollte ganz normal in den Bahnhof hinein.
Als sie stehen blieb, wachte der Lokführer auf und sah sich verwirrt um.
»Ist irgendwas passiert?«, fragte er.
Die kleine Dampflok verriet ihm aber nichts, während ein kleiner, jubelnde Junge aus dem Waggon ausstieg und von der besten Zugfahrt seines Lebens sprach.

(c) 2010, Marco Wittler

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