491. Der Traumfänger

Der Traumfänger

»Er ist endlich da!« riefen die Kinder von den Hügel aus zum Dorf hinunter. »Der Traumfänger ist wieder da.«
In diesem Moment kam ein großer, von zwei Eseln gezogener Planwagen um die Kurve und hielt genau auf das Dorf zu. Auf seiner Seite stand in großen Buchstaben etwas geschrieben: Mario, der große Traumfänger.
Die Kinder waren begeistert, denn nur die wenigsten von ihnen hatten den Traumfänger persönlich kennengelernt. Sie kannten ihn nur aus den Erzählungen ihrer Eltern.
»Jetzt können wir endlich träumen.«
Der Wagen hielt auf dem Dorfplatz und ein großer, dürrer Mann stieg aus. Die Bewohner umringten ihn sofort und baten ihn,  die erste Nacht bei ihm zu verbringen, bevor er zu anderen gehen würde.
»Was macht eigentlich dieser Traumfänger?« wollte die kleine Maria wissen.
»Weißt du denn gar nichts?« war ihr großer Bruder Anton genervt. »Er bleibt bei den Leuten über Nacht und fängt für sie Träume ein. Nur wenn er bei jemandem im Haus ist, kann man etwas träumen.«
Maria bekam große Augen. »Ich werde etwas träumen? Das kann ich mir noch gar nicht so richtig vorstellen.«
Aber so kam es tatsächlich. Nacht für Nacht verbrachte der Traumfänger seine Zeit in den Häusern der Dorfbewohner und fing ihnen die Träume aus der Luft, bis er eines Abends bei Marias Familie vor der Tür stand.
Das kleine Mädchen war sehr gespannt. »Ich will endlich meinen allerersten Traum erleben.«
Doch dann sah sie den müden Blick und hörte das leise Seufzen des Traumfängers.
»Was ist denn mit dir?« fragte Maria.
»Ich bin so unglaublich müde. Ich kann nicht mehr. Jede Nacht bin ich wach, sitze an den Betten der Menschen und fange ihre Träume ein. Ich würde nur zu gern einmal selbst schlafen und träumen. Aber das habe ich schon sehr lange nicht mehr machen können. Ich bin der einzige Traumfänger. Deswegen werden immer nur die anderen träumen können.«
»Aber das ist doch unfair. Da muss man doch was gegen machen.«
Mario seufzte wieder. »Wenn das so einfach wäre. Die Träume fangen sich leider nicht von allein.«
»Aber vielleicht kann man daran etwas ändern.« war Maria fest entschlossen.

Am Abend setzten sie sich zusammen ans Bett und redeten über das Fangen von Träumen.
»Sie fliegen um uns herum. Sie sind die ganze Nacht in der Luft und ziehen dort ihre Kreise.« erklärte Mario.
»Der Schläfer kann damit nichts anfangen, weil er im Bett liegt. Deswegen braucht er Hilfe. Ich greife in die Luft und ertaste die Träume. Wenn ich einen erwischt habe, lasse ich ihn fallen, damit er auf dem Schläfer landet. Schon kann der Mensch etwas Schönes träumen.«
»Es wäre toll, wenn es ein Traumfängernetz gäbe, worin sich die Träume verfangen. Dann könnten wir jede Nacht träumen und du könntest endlich einmal schlafen.«
Maria sprang auf und kramte in ihrer Bastelkiste. Daraus holte sie nach ein paar Augenblicken ein paar kleine Ringe, etwas Wolle und Federn hervor. Mit ganz viel Mühe und Fingerspitzengefühl bastelte sie sich nun ein Netz. Mario half ihr dabei, so gut er konnte, gab Tipps, wenn er der Meinung war, dass noch etwas fehlte. Nach ein paar Stunden waren sie fertig und mit der Arbeit zufrieden.
»Der Traumfänger ist fertig. Hoffen wir, dass er funktioniert.«
Mario hängte ihn unter die Decke des Raumes, direkt über das Bett. Dann legte sich die ganze Familie darunter zum Schlafen. Mario durfte bleiben und die neue Erfindung ausprobieren. Nach und nach schliefen die Menschen ein.

Am nächsten Morgen wachten sie alle frisch und ausgeruht auf. Die ganze Familie hatte ein Lächeln in ihren Gesichtern.
»Ich wusste gar nicht, dass Träume so schön sind.« war Maria begeistert und Mario konnte ihr nur zustimmen.
»Der Traumfänger ist toll. Aber dafür nimmt er mir jetzt die Arbeit weg.«
»Du brauchst keine Angst haben.« beruhigte ihn Maria. »Jeder Mensch möchte träumen. Das möchten sie jede Nacht. Ab jetzt kannst du Traumfänger basteln und sie verkaufen. Das ist doch eine viel bessere Arbeit. Du kannst ab jetzt nachts selbst schlafen.«
Das gefiel Mario sehr gut. So wurde aus dem Traumfänger der Traumfängerhersteller.

(c) 2015, Marco Wittler

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