510. Der kleine Ritter mit dem kleinen Schwert

Der kleine Ritter mit dem kleinen Schwert

Im Hof der großen Burg jubelten die Menschen dem schwarzen Ritter entgegen, der gerade mit dem abgeschlagenen Kopf eines Drachen über die Zugbrücke ritt.
»Mit meinem großen Schwert und meinen kräftigen Armen habe ich ihn stundenlang gejagt und bekämpft. Am Ende hat er verloren.« verkündete er und ließ sich feiern.
Auch der König war zufrieden. Schon bald würde es keine Drachen mehr geben, die sein Reich bedrohten. Nie wieder würden Häuser brennen, nie wieder Menschen sterben, nie wieder holde Jungfrauen entführt.
»So schön es auch ist, unseren Helden zu feiern.« erklärte der König vom Balkon aus seinen Untertanen. »Die Jagd muss weiter gehen, bis es keinen einzigen Drachen mehr auf dieser Welt gibt. Sie müssen ausgerottet werden.«
Er sah sich streng um und warf auf jeden seiner Ritter einen Blick.
»Es soll noch einen letzten Drachen geben. Es hat ihn noch niemand zu Gesicht bekommen. Aber die Spuren sind eindeutig. Er warf ein paar Mal seinen Schatten auf den nahen Wald. Außerdem wird sein lautes Brüllen regelmäßig in den Bergen gehört. Es muss in einer der Höhlen leben.«
Er gab den Befehl, den Drachen zu suchen und zu töten. Also zogen die Ritter am nächsten Morgen los. Sie steckten in ihren glänzenden Rüstungen und trugen ihre großen Schwerter und Schilde. So ausgerüstet ritten sie gemeinsam in die Berge und verteilten sich dann, weil jeder von ihnen den Drachen zuerst erlegen wollte. Nur einer von ihnen musste im Tal auf die Pferde aufpassen. Er war der Kleinste von ihnen, fast ein Zwerg und sollte auf die Pferde aufpassen.
»Du bist zu klein.« hatte er immer wieder auf dem Weg zu den Bergen gehört. »Die frisst der Drache mit einem Bissen und dann bist du weg. Außerdem kannst du mit deinem winzigen Schwert niemals eine Bestie erlegen.«

Nach ein paar Stunden stürmte der erste Ritter aus den Bergen hinab ins Tal. Sein edler Schild war vom Ruß geschwärzt, sein mächtiges Schwert hatte er irgendwo unterwegs verloren.
»Der Drache ist ein unglaubliches Ungetüm.« rief er verzweifelt und rannte an den Pferden vorbei. »Er wird uns alle töten. Er wird das Königreich in Schutt und Asche verwandeln.« Dann verschwand er zwischen den Bäumen und ward nie mehr gesehen.
Kurz darauf erschien der zweite Ritter. Er hatte die Hälfte seiner Rüstung verloren. Der Helm war verbeult und seine Waffen weg.
»Wir werden alle sterben. Wir sind dem Untergang geweiht.«
Auch er verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Nur wenige Minuten kam auch der dritte Ritter von Furcht getrieben ins Tal. Sein Schild war zur Hälfte geschmolzen, sein Schwert zerbrochen und nie wieder benutzbar.
»Er hätte mich fast gefressen. Er hat fast meinen Arm erwischt. So einen grausamen Drachen habe ich noch nie erlebt. Den wird niemand jemals erlegen.« rief er verzweifelt und rannte verzweifelt in den Wald hinein, aus dem er nie wieder heraus kam.
Jetzt war der schwarze Ritter allein mit dem Drachen. Aber wenn er ihn nicht töten konnte, wer dann? Er hatte die meiste Erfahrung, hatte schon die gefährlichsten Monster zur Strecke gebracht. Er würde auch mit dieser Aufgabe fertig werden. Da war sich der kleine Ritter sicher.
Doch dann hörte er einen Schrei von einem der Berggipfel. Wenige Augenblicke später rollte ein dunkles Etwas einen Hang herunter, riss Büsche und Bäume um und blieb schließlich eine Hand breit vor den Pferden liegen.
»Seit ihr es? Schwarzer Ritter? Seit ihr es wirklich?«
Vom Glanz der schwarzen Rüstung war nichts mehr zu sehen. Ihre Farbe war stumpf und dreckig. Unzählige Beulen und Löcher verteilten sich von oben bis unten.
»Er ist nicht zu bezwingen. Er zu gewaltig.« brummte der schwarze Ritter erschöpft. »Ich habe ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen. Er griff mich in einer Höhle von hinten an. Er trat mich, schlug mich, verbrannte mir mit seinen heißen Flammen die Rüstung. Ich konnte mich nicht wehren. Mein großes Schwert war für die schmalen Höhlengänge zu lang. Es blieb immer wieder an den Wänden hängen. Kein Mensch dieser Welt wird ihn jemals zur Strecke bringen. Er ist zu schlau für uns.«
Mit letzter Kraft stemmte er sich hoch und schwankte mit unsicherem Gang fort, um sich irgendwo bis zum Rest seines Lebens zu verstecken.
»Und nun?« Der kleine Ritter sah sich unsicher um. Nun war er mit fünf Pferden allein am Fuß der Berge. »Der König erwartet doch, dass jemand den Drachen zur Strecke bringt.«
Er sah an sich und seinem wirklich sehr kleinen Schwert hinab. »Aber wie soll ich das anstellen? Ich bin so klein und der Drache so gefährlich.«
Er schluckte laut. »Aber der König hat es uns befohlen. Einer von uns muss es tun.«
Er seufzte und schlich in kleinen, unsicheren Schritten hinauf ins Gebirge.

Nach einem langen, harten Aufstieg stand der kleine Ritter vor einem der vielen Höhleneingänge. Ängstlich sah er hinein.
»Hallo?« rief er zitternd.
»Ist hier ein Drache drin?«
»Nein, hier ist kein Drache drin.« kam eine lachende Antwort.
Der kleine Ritter war verwirrt. Kein Drache? Dann musste er weiter suchen.
Nach und nach suchte er die einzelnen Höhlen und Löcher in den Bergen auf. Überall rief er seine Frage hinein. »Hallo? Ist hier eine Drache drin?« Und jedes Mal kam die gleiche Antwort. »Nein, hier ist kein Drache drin.«
»Das wird mit jetzt aber zu dumm.« sagte er schließlich zu sich selbst. »Irgendwer will mich da veralbern und auf den Arm nehmen.«
Er zog sein kleines Schwert, versteckte sich hinter seinem kleinen Schild und betrat die Höhle vor sich. Nach jedem zweiten Meter blieb er stehen, sah sich um und fragte erneut. Doch nun gab es keine Antworten mehr.
Irgendwann gelangte er in einen riesigen Höhlenraum. Von dort aus gingen unzählige andere Gänge in alle Richtungen.
»Die Höhleneingänge sind miteinander verbunden. Deswegen gab es immer eine Antwort.« wurde dem kleinen Ritter nun klar.
»Du bist ja schlauer, als ich dachte.« rief nun eine Stimme hinter ihm. »Schön, dich endlich persönlich kennenzulernen.«
Der kleine Ritter drehte sich um. Er sah sich dem Drachen nun direkt gegenüber. Er spürte den heißen Atem des Ungeheuers in seinem Gesicht und erschrak.
»Wirst du mich jetzt verbrennen oder sogar auffressen?«
Der Drache, der so klein wie der kleine Ritter war, sah an seinem Gegner herab, schüttelte den Kopf und hob seine Arme über den Kopf.
»Nein, aber du wirst mir jetzt bestimmt den Kopf abschlagen. Das ist doch die Aufgabe eines tapferen Ritters. Und wenn ich dein kleines, scharfes Schwert sehe, weiß ich, dass ich keine Chance gegen dich habe.«
Sie sahen sich gegenseitig ernst an. Beide bekamen Schweißperlen auf der Stirn. Jeder wartete darauf, dass der andere den Kampf beginnen und damit einen Fehler begehen würde.
Und dann fingen sie gleichzeitig an zu lachen und fielen sich in die Arme.
»Ich kann gar nicht richtig kämpfen.« gestand der kleine Ritter. »Ich habe mein Schwert noch nie benutzt.«
»Und ich habe noch nie einen Menschen bedroht, nie einen gefressen. Ich habe noch nie etwas niedergebrannt. Für holde Jungfrauen hab ich auch nichts übrig. Ich lese lieber spannende Abenteuerbücher. Ich lebe einfach hier in meiner großen Höhle und möchte meine Ruhe haben.«
Der kleine Ritter kratzte sich am Kopf. »Aber was machen wir denn jetzt? Der König wird immer wieder Ritter schicken, bis einer von ihnen ihm deinen Kopf bringt.«
Der kleine Drache grinste plötzlich über das ganze Gesicht. »Ich glaube, ich habe da eine grandiose Idee.«

Einen Tag später ritt der kleine Ritter auf seinem kleinen Pferd unter den jubelnden Rufen der Menschen in den Hof der großen Burg. In der einen Hand hielt er sein kleines Schwert, in der anderen einen prall gefüllten Sack. Erst vor dem Balkon des Königs hielt er an.
»Die großen und tapferen Ritter haben alle versagt. Keiner von ihnen konnte die gestellte Aufgabe erfüllen und den gefürchteten, letzten Drachen zu Strecke bringen. Wegen dieser Schande haben sie sich in den Wäldern versteckt und werden nie wieder zurück kommen. Deswegen habe ich mich das Unmögliche möglich gemacht.«
Es wurde still auf dem Hof. Der König sah ungläubig von seinem Balkon hinab. »Dann zeige mir seinen Kopf.«
Der Ritter schüttelte stattdessen lachend seinen eigenen.
»Ich habe ihn nicht.«
Langsam öffnete er den Sack, den er bei sich trug. »Stattdessen habe ich mir die Mühe gemacht, dem Drachen mit meinem kleinen Schwert die Haut abzuziehen.«
Und tatsächlich holte er nun ein vollständige Drachenhaut hervor und zeigte voller Stolz jedem.
Der überraschte König erklärte sofort den kleinen Ritter zum tapfersten Mann des gesamten Reichs und beschenkte ihn mit so viel Gold, dass er für den Rest seines Lebens nicht mehr arbeiten musste.

Eine Kleinigkeit behielt der kleine Ritter allerdings für sich. Er hatte in der Höhle erfahren, dass Drachen zu den Reptilien gehören, also mit Schlangen verwandt sind. Wenn sie wachsen, müssen sie regelmäßig ihre alte Haut abwerfen. Eine dieser gebrauchten Häute hatte der kleine Ritter dem König übergeben. So konnte der kleine Drache am Leben bleiben.
Regelmäßig trafen sich nun die beiden in den Bergen und lasen gemeinsam Abenteuerbücher.

(c) 2015, Marco Wittler

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*