719. Der König hat Lust auf Milch

Der König hat Durst auf Milch

»Ich habe Lust auf einen Becher Milch.«, rief der König ungeduldig. »Verdammt nochmal. Wo bleibt meine Milch?«
Ungeduldig schlug er mit der Faust auf die Lehne seines Throns.
»Wer ist so dreist, dass man mich warten lässt?«
In diesem Moment betrat ein verängstigter Diener den Thronsaal des Palasts. Mit kleinen Schritten schlich er auf seinen Herrscher zu.
»Es tut mir Leid, Eure Majestät. Aber wir können Euch heute keine Milch bieten. Die Hofkuh ist auf der Weide schwer gestürzt und dabei verstorben.«
»Was denkt sich diese Kuh eigentlich?«, tobte der König. »Wenn sie nicht schon verstorben wäre, würde ich sie zum Tode verurteilen.«
Er drehte sich weg und dachte eine Weile nach. Dann blickte er wieder seinen Diener an.
»Du wirst losgehen und mir meine Milch besorgen. Es ist mir egal, woher du sie bekommst und wie weit du dafür laufen musst. Ich will Milch. Bringst du sie mir nicht bis zum Morgengrauen, verlierst du dein Leben.«
Der Diener erschrak. Woher sollte er nur die Milch nehmen? Es gab keine weiteren Kühe im Königreich.
»Aber mein Herr, das ist unmöglich. Wie soll ich das machen?«
»Oh!«, antwortete der König. »Du willst dich also weigern? Ich kann den Scharfrichter auch sofort rufen lassen.«
Der Diener verstummte, senkte seinen Kopf und schlich zur Tür.
»Nein.«, bettelte er. »Ich werde Euch die Milch besorgen. Bis zum Morgengrauen.«

Der Diener überlegte lange, was er nun machen sollte. Mit weißer Farbe eingefärbtes Wasser? Nein, das würde der König schmecken. Aber was dann?
Da fiel ihm ein, dass es im benachbarten Königreich eine große Rinderweide geben sollte. Gesehen hatte er sie nicht. Er war noch nie dort gewesen. Aber zumindest hörte er die Menschen im Land im wieder darüber reden. Also musste da auch etwas dran sein. Er packte schnell die wichtigsten Dinge zusammen in einen Beutel, warf sich diesen über die Schulter und machte sich auf den Weg.
Die Wanderung in das nächste Königreich hatte er sich völlig anders vorgestellt. Der Weg war sehr anstrengend, ging lange steil bergauf, über ein kaltes, Schnee bedecktes Gebirge und auf der anderen Seite wieder hinunter.
Ihm taten irgendwann die Füße weh, die Bein schmerzten wegen der ungewohnten Anstrengung. Nur zu gern hätte sich der Diener für eine Pause auf einem Stein niedergelassen. Aber das konnte er sich nicht erlauben. Bis zum nächsten Morgen war nicht mehr viel zeit übrig.
Nach einigen Stunden kam er im nächsten Tal an und wollte seinen Augen nicht trauen. Vor ihm lag tatsächlich eine große Weide auf der unzählige Milchkühe standen und saftig grünes Gras fraßen.
Vor Freude lief er nun wieder schneller, blieb bei der ersten Kuh stehen und füllte an ihrem Euter seine mitgebrachte Flasche. Dann ging es wieder zurück nach Hause.

Der Rückweg war noch beschwerlicher als der Hinweg, was daran lag, dass der Diener völlig erschöpft war. Mit letzten Kräften schleppte er sich das Gebirge wieder nach oben, arbeitete sich mit kleinen Schritten durch den hüfthohen Schnee und auf der anderen Seite wieder hinunter.
»Das ist so anstrengend. Was soll ich nur machen?«
Der Diener sah zum Horizont, der langsam heller wurde. Die Nacht, die er auf dem Berg verbracht hatte, ging langsam zu Ende.
»Nur noch wenig Zeit. Viel zu wenig. Ich werde es nicht mehr rechtzeitig zum Palast schaffen. Ich sollte einfach hier oben bleiben und in der Kälte erfrieren. Das ist bestimmt nicht so schmerzhaft wie der Scharfrichter.«
Er machte sich dann aber doch wieder auf den Weg und ging weiter.
Plötzlich fegte ein völlig unerwarteter und kräftiger Windstoß über den Berg. Der Diener verlor den Halt, stürzte und fiel kopfüber in den Schnee. Dabei rutschte ihm die Flasche aus der Tasche und zerbrach an einem Stein. Die Milch floss aus und verteilte sich zwischen den gefallenen Schneeflocken.
»Oh nein!«, war der Diener erschrocken. »Wie konnte das nur passieren?«
Er stand wieder auf und besah sich panisch das Unglück.
Jetzt würde er auf keinen Fall mehr pünktlich im Palast ankommen. Er brauchte eine neue Flasche und hätte dann erst wieder ins benachbarte Königreich gehen müssen.
In seiner Verzweiflung klaubte der Diener den Schnee und die in ihm gefrorene Milch zusammen und verstaute alles in seinem Beutel. Dann nahm er seine Beine in die Hände und rannte hinunter ins Tal.
Als die Sonne über den Horizont kletterte, erreichte der Diener keuchend den Palast des Königs. Dort wurde er sofort in den Thronsaal vorgelassen.
»Du bist spät dran.«, ermahnte ihn der König. »Hast du mir die versprochene Milch besorgt?«
Der Diener nickte ängstlich und leerte seinen Beutel in eine große Schüssel.
»Was soll das sein?«, brüllte der König wütend. »Was ist das für ein Zeug, dass du mir da mitgebracht hast? Ich wollte Milch, kein kaltes, weißes Matschzeug.«
»Es ist eure Milch.«, versprach der Diener. »Im Gebirge ist es kalt und es schneit ohne Unterlass. Sie ist lediglich gefroren und mit Schnee und Eis vermischt. Aber es ist immer noch Milch.«
»Eis und Schnee?«, fragte der König noch einmal nach und dachte schon darüber nach, den Scharfrichter holen zu lassen.
Doch dann steckte er einen Finger in das weiße Gemisch.
»So cremig.«, war er erstaunt.
Der König lutschte seinen Finger ab und schloss genüsslich die Augen.
»Eisig und cremig. Wie vorzüglich. So etwas Leckeres habe ich noch nie gegessen. Ich werde es Eiscreme nennen.«
Er drehte sich zu seinem Diener um und grinste ihn an.
»Das ist viel besser, als ein Becher Milch. Die bist grandios. Ich werde dich fürstlich belohnen. Aber dafür musst du mir jeden Tag etwas von dieser Eiscreme besorgen.«
Der Diener, der durch seinen Unfall die Eiscreme erfunden hatte, seufzte. Jetzt würde er wohl jeden Tag über die Berg ins Nachbarland gehen müssen.

(c) 2019, Marco Wittler

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