759. Ein Geist in der Küche

Ein Geist in der Küche

Mit einem leichten Frösteln stand Mama vom Sofa auf und zog sich ihre kuschelig weiche Strickjacke an.
»Ist ganz schön frisch geworden.«, murmelte sie vor sich hin. Wenn es doch bloß noch Sommer wäre. Stattdessen regnet es ohne Pause, und kalt ist es auch noch.«
Aber der Blick auf den Kalender belehrte sie eines Besseren. Es war bereits der letzte Oktobertag.
»Ich glaube, ich mache mir mal einen leckeren Tee. Das ist perfekt bei diesem Wetter.«
Sie ging in die Küche, füllte den Wasserkocher und stellte ihn an. Während sie wartete, gab sie Tee in ein Sieb, hängte dieses in ihre Kanne und holte eine Tasse aus dem Schrank.
KLICK!
Der Wasserkocher hatte seinen Job ordnungsgemäß erledigt und schaltete sich ab.
Mama goss das Wasser in ihre Kanne und setzte sich anschließend davor.
»Mh, wie das lecker duftet. Ich kann den ersten Schluck kaum noch erwarten.«
Bei diesem Gedanken blickte sie geistesabwesend in den aufsteigenden Dampf und freute sich schon wieder auf gemütliche Stunden auf dem Sofa mit einem Buch in der einen und ihrer Tasse in der anderen Hand.
Doch plötzlich geschah etwas, dass sie zuerst nicht einmal bemerkte. Das Licht in der Küche wurde langsam, kaum merklich, dunkler. Erst als es schon nicht mehr leuchtete, sondern nur noch das spärliche Licht von draußen die Küche erhellte, nahm Mama die Veränderung wahr.
»Huch!Was ist denn jetzt passiert? Stromausfall?«
Mama sah zur Mikrowelle. Das Uhrendisplay leuchtete.
»Vielleicht ist die Glühbirne kaputt. Die soll der Papa nachher mal austauschen.«
Schon wollte sie nach der Kanne greifen, als etwas Unerwartetes auftauchte.
Im dichten Dampf des heißen Tees tauchte eine kleine Gestalt auf. Sie war zunächst sehr verschwommen, wurde aber von Sekunde zu Sekunde klarer. Es war … ein Geist!
Mama schrak auf ihrem Küchenstuhl zurück und wäre beinahe mit ihm umgekippt. Sie konnte sich gerade noch an der Tischkante festhalten.
Mama wollte schreien, um Hilfe rufen, aber es kam kein einziger Laut über ihre Lippen. Ihr Mund war wie erstarrt.
Stattdessen stand sie auf und wollte aus der Küche fliehen. Doch irgendwas hielt sie auf.
War es die Neugier? Vielleicht die Angst, die langsam in ihre Beine kroch und diese bannten? Oder war es das leise Stöhnen, dass nun zu hören war?
Mama drehte sich wieder um und starrte auf den Geist, der sich nun langsam im Dampf hin und her bewegte.
»Hilf mir!«, schien er nun zu stöhnen.
»Lass mich nicht allein! Hilf mir!«
Ja, nun war es ganz deutlich zu hören. Der Geist sprach tatsächlich.
»Nein, nein, nein!«, war Mama entsetzt. »Das kann doch gar nicht sein. Es gibt doch keine Geister.«
Nur war sie sich dessen nun gar nicht mehr so sicher. Immerhin sah sie einen genau vor sich, auch wenn er ziemlich klein war.
»Du bist nur ein seltsamer Tagtraum. Du bist nicht echt.«
»Hilf mir!«, stöhnte der Geist erneut. »Komm her und hör mir zu, bevor es zu spät ist.«
Mama bekam Schweißperlen auf der Stirn. Sollte sie der Bitte – eigentlich klang es mehr wie ein Befehl – Folge leisten oder war es am Ende eine geschickte Falle?
Widerwillig näherte sie sich dem Tisch und setzte sich.
»Was willst du mir sagen?«, hörte sie sich fragen, ohne dies eigentlich gewollt zu haben.
»Ich muss dir ein Geheimnis anvertrauen, damit ich endlich ruhen kann in meinem Grab.«
Die Stimme wurde immer leiser, schien aus weiter Ferne zu kommen.
»Ich verstehe dich kaum noch. Sprich lauter.«
Aber der Geist schüttelte seinen Kopf.
»Komm näher!«, sagte er und lockte Mama mit seiner Hand zu sich. Mama folgte ihm.
»Noch näher!«
Nun war Mama mit ihrem Gesicht nur wenige Zentimeter von der dampfenden Kanne entfernt.
»Nun will ich dir mein Geheimnis verraten.«, flüsterte der Geist verschwörerisch.
»Ich bin kein Geist. Ich bin auch keine Einbildung. Ich bin nicht wirklich da. Ich bin nur eine Projektion.«
Dann begann er zu lachen und verschwand. Das Lachen blieb und wurde wenige Sekunden später vom Lachen Papas übertönt, der nun aus einer versteckten Nische hervor trat. In seiner Hand hielt er einen kleinen Projektor, den er an sein Handy angeschlossen hatte.
»Wusste ich doch, dass ich dich damit reinlegen kann.«, war er sichtlich stolz auf sich.
Mama verdrehte die Augen und warf ein Küchentuch nach ihm.
»Du immer mit deinen blöden Halloweenscherzen. Jedes Jahr das Gleiche.«

(c) 2019, Marco Wittler

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