760. Verfolgt von einem Geist (Ninos Schneckengeschichten 14)

Verfolgt von einem Geist

Der Bürgermeister gähnte laut, als er das Rathaus zu später Stunde verließ. Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm, dass es bereits zur Mitternacht geschlagen hatte.
»Jetzt wird es aber Zeit, dass ich nach Hause komme. Meine Frau ist bestimmt schon sauer, dass es wieder so spät geworden ist.«
Er nahm seine Beine in die Hand und machte sich auf den Weg.
Der Bürgermeister bog um ein, zwei, drei Ecken, ließ die Hauptstraße hinter sich und bog in ein ruhiges Wohngebiet ab. Nur noch ein paar Minuten in der Dunkelheit trennten ihn von seinem Haus.
In diesem Moment wurde es merklich kühler. Vom nahen Fluss wallten Nebel auf, die rasch dicker und undurchsichtiger wurden. Der Blick nach vorn brach schon nach wenigen Metern ab.
Aus einer besonders dunklen Seitenstraße ertönte plötzlich ein lautes Scheppern. Irgendwelche Dinge fielen krachend zu Boden, rollten hin und wieder her und kamen nur langsam wieder zur Ruhe.
»Du meine Güte!«, stockte dem Bürgermeister der Atem. Er fasste sich ans Herz, holte tief Luft und wollte schnell weiter laufen, aber seine Beine versagten ihren Dienst und blieben wo sie waren.
Aus der dunklen Seitenstraße ertönte ein Stöhnen. Es begann erst ganz leise, kaum hörbar, wurde dann aber rasch lauter.
»Was … was ist das?«
Der Bürgermeister bekam es mit der Angst zu tun.
»Geister? In meiner Stadt? Oh bitte nicht.«
»HILFE!«, stöhnte die unbekannte Stimme.
»HILFE!«
Es wurde immer gespenstischer. Der Bürgermeister war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite war es ihm immer ein großes Anliegen, anderen zu helfen, vor allem denen in Not. Aber was, wenn ein Geist ihn anlocken und ihm etwas antun wollte?
»HILFE!« Die Stimme kam näher. Ein Schatten schälte sich aus der Dunkelheit und trat in das spärliche Licht einer Straßenlaterne.
»Nino?«, war der Bürgermeister überrascht. »Nino, bist du das?«
Eine Schnecke trat ins Licht und nickte ihm zu.
»Ja, Herr Bürgermeister, ich bin es.«
»Was ist denn mit dir passiert? Wolltest du mich erschrecken?«
Nino schüttelte den Kopf und verzog schmerzverzerrt das Gesicht.
»Ich wollte nur den Müll nach draußen bringen. Dann bin ich über einen Stein gestolpert und gegen die Mülltonnen geprallt.«
Der Bürgermeister atmete lachend auf. Er hatte sich völlig grundlos Angst und Sorgen gemacht.
»Du bist mir ja ein Chaot.«, schmunzelte er und hielt die Nino die Hand hin.
»Komm noch eine Weile mit zu mir nach Hause. Ich lade dich auf einen Kaffee ein und werde dann mit meiner Frau zusammen deine Wunden versorgen.«
Als aus einer weiteren Seitenstraße ein guseliges Lachen ertönte, liefen sie ganz schnell an ihr Ziel und verschlossen die Tür fest hinter ihnen.

(c) 2019, Marco Wittler

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