776. Das kleine Kerzenlicht

Das kleine Kerzenlicht

Auf dem Adventskranz brannte die erste Kerze . Die Flamme war prächtig anzusehen. Sie selbst war sehr stolz, den ganzen Raum in ein warmes und gemütliches Licht zu tauchen.
»Es gibt nichts Schöneres und Wichtigeres für ein Kerzenlicht, als in der Adventszeit den Menschen zu gefallen.«, sagte sie pausenlos zu den anderen drei Kerzen, die noch nicht entzündet worden waren.
»Ihr könnt das natürlich noch nicht wissen. Ihr habt das noch nicht erlebt. Aber lasst es euch gesagt sein: es ist so!«
Am zweiten Advent näherte sich dann das brennende Streichholz der zweiten Kerze und entzündete ein weiteres Kerzenlicht.
Etwas missmutig sah die erste Flamme auf die andere. Nun war sie nicht mehr allein und musste sich den Ruhm und die Bewunderung durch die Menschen mit jemandem teilen.
»Bild dir mal nichts drauf ein, dass nun auch du brennst.«, sagte das erste Kerzenlicht.
»Ich brenne hier schon eine ganze Weile und bin auch viel größer als du. Ich bin hier der Star, nicht du.«
Das kleinere Kerzenlicht fühlte sich eingeschüchtert und wurde noch ein Stück kleiner. Fast wäre es sogar erloschen. Doch dann fiel sein Blick aus dem Fenster. Dort draußen saßen kleine Mäuse und sahen frierend aus ihrem Loch auf die verschneite Landschaft.
»Was kümmern dich diese Nager?«, fragte das erste Kerzenlicht hochnäsig.
»Das sind keine Menschen. Für die brennen wir hier nicht. Denk lieber an deine Aufgabe, an deine wahre Bestimmung.«
Das kleine Kerzenlicht nickte nur.
»Ja, daran denke ich die ganze Zeit. Es ist meine Aufgabe, denen Licht und Wärme zu schenken, die es wirklich brauchen.«
Dann hüpfte es vom Docht seiner Kerze, öffnete das Fenster und schlüpfte nach draußen.
»Was soll denn das? Bist du verrückt geworden? Dein Platz ist auf dem Adventskranz und nicht da draußen bei dem Gesindel.«
Doch es war zu spät. Das kleine Kerzenlicht hatte bereits den Boden erreicht. Mit wenigen Sprüngen gelangte es in das Mauseloch, wo es einen Platz auf einem alten Kerzenstummel fand und nun die kleine Behausung der Mäuse erhellte und erwärmte.
»Vielen Dank, kleines Kerzenlicht.«, bedankten sich die Mäuse. »Du wirst es vielleicht nicht wissen, aber mit deiner Anwesenheit rettest du uns das Leben. Es ist so kalt geworden, dass wir in der nächsten Nacht erfroren wären.«
Glücklich und zufrieden sah das kleine Kerzenlicht zum Mauseloch hinaus. Der Blick fiel auf das Fenster der Menschenwohnung, wo ein Lufthauch durch das offene Fenster das große Kerzenlicht ausblies und es damit verschwand.

(c) 2019, Marco Wittler

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