802. Der verwunsche Wald oder „Papa, warum steht ein Holzschwein im Wald?“ (Papa erklärt die Welt 46)

Der verwunschene Wald
oder »Papa, warum steht ein Holzschwein im Wald?

Papa und Sofie waren im Wald unterwegs. Das schöne Sommerwetter hatte sie zu einer Wanderung in der Natur eingeladen.
Mit gepackten Rucksäcken und großen Trinkflaschen ausgestattet, waren sie nun schon seit einiger Zeit unterwegs.
Immer wieder gab es Neues zu entdecken. Unterwegs hatten sie einen bunt geschmückten Weihnachtsbaum entdeckt – mitten im Sommer. Ein paar Rehe hatten ihren Weg gekreuzt, und von einem Berggipfel aus hatten sie die wunderschöne Aussicht genießen können.
Irgendwann entdeckte Sofie etwas Seltsames zwischen den Bäumen. Auf dem Waldboden lag ein alter Baumstamm. Astreste, die wie Augen und Ohren aussahen und eine spitz angesägtes Ende gaben ihm das Aussehen eines Waldbewohners.
»Papa, schau mal!«, rief Sofie aufgeregt. »Das Holz hier sieht aus wie ein Wildschwein. Ist das nicht cool?«
Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und machte sofort ein Foto von ihrem Fund.
»Das ist aber kein echtes Wildschwein, oder?«, fragte sie.
Papa kratzte sich am Kinn. Er dachte noch nach. »Doch es ist echt.«
Sofie sah ihn verwundert an. »Papa, warum steht ein Wildschwein aus Holz im Wald?«
»Das ist eine sehr gute Frage.«, antwortete er schließlich. »Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Sie handelt zufällig von einem verwunschenen Wildschwein. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal ein tiefer, dunkler Wald, der von allen Menschen gemieden wurde. In den Dörfern rundherum hielt sich das Gerücht, dass er verwunschen war. Niemand, der den Wald einmal betreten hatte, sollte je wieder daraus hervor gekommen sein. Wann sich aber der allerletzte Mensch einmal zwischen die dicht gewachsenen Bäume getraut hatte, konnte niemand sagen.
Wilde Geschichten rankten sich über das, was im Wald vor sich gehen sollte. Die einen sprachen von einer Hexe, die kleine Kinder verspeiste, andere von einem bösartigen Zauberer. Doch die bekannteste Geschichte, die jeder Mann, jede Frau und jedes Kind fürchtete, handelte von einem Wildschwein, dass jedem ins Bein beißen sollte, der auch nur einen Fuß in den Wald setzte.
Die Menschen der kleinen Dörfer hatten vor diesen vielen Gefahren Respekt und kamen dem Waldrand nicht zu nahe.
Es sollten viele Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte vergehen, bis sich ein junger Mann ein Herz nahm und seinen Mut beweisen wollte.
Er schulterte sein Päckchen, suchte sich einen Wanderstab und betrat, nach ein paar tiefen Atemzügen mit geschlossenen Augen den Wald.
Er wartete einen Augenblick ab, einen zweiten und dritten. Nichts geschah. Alles um ihn herum blieb, bis auf ein paar zwitschernde Vögel, ruhig.
Der junge Mann öffnete die Augen und sah sich erleichtert um. Alles sah so aus, wie er sich einen normalen Wald vorstellte: Bäume, Sträucher, ein überwucherter Waldweg, den schon lange niemand mehr betreten hatte.
Mutig setzte er seinen Weg fort, ließ seinen vorsichtigen Blick aber pausenlos von einer zur anderen Seite wandern.
Und dann hörte er ein Geräusch. Nicht weit vom Weg entfernt, knackten ein paar Äste. Jemand, oder etwas, näherte sich dem jungen Mann.
Er hielt den Atem an, wollte schreiend davon laufen, raus aus dem Wald. Aber trotzdem schaffte er es, still stehen zu bleiben.
Plötzlich brach ein großes Wildschwein aus dem Gebüsch. Von seinen langen, spitzen Zähnen tropfte Speichel zu Boden.
Es orientierte sich kurz, nahm den Eindringling ins Visier und stürzte sich und lautem Gebrüll auf ihn.
Jetzt hieß es Mensch oder Wildschwein. Zum Fortlaufen war es zu spät. Der junge Mann schlug mutig seinen Wanderstab in den Boden vor sich und sprach eine Drohung gegen das Schwein aus.
»Überschreite diese Grenze und dir wird Schlimmes geschehen.«
Von dieser Warnung ließ sich das Wildschwein natürlich nicht beeindrucken. Es stürmte weiter auf den Mann zu. Als es den Wanderstab passieren wollte, prallte es zurück, als wäre es gegen eine unsichtbare Mauer gestoßen.
Verwirrt und leicht benommen schüttelte es seinen riesigen Kopf. Dann setzte es zum nächsten Angriff an. Erneut prallte es gegen etwas, dass nicht da sein konnte.
Auch der junge Mann war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Drohung irgendwas bewirken konnte. Er musste wohl durch einen sehr großen Zufall einen magischen Wanderstab gefunden haben. Mutig sprach er eine weitere Drohung aus.
»Hör auf, mich anzugreifen oder du wirst aus dem Leben scheiden.«
Das Wildschwein hörte nicht darauf, griff ein drittes Mal an. Statt an die nicht sichtbare Mauer zu prallen, kippte es um, erstarrte in seiner Bewegung und verwandelte sich in einen alten Baumstamm, der neben dem Waldweg liegen blieb.
Der junge Mann atmete erleichtert auf. Er griff nach seinem wundersamen Wanderstab und machte sich auf den Rückweg. Nun konnte er in seinem Dorf davon berichten, dass der Wald keine Bedrohung mehr war und jeder in betreten durfte.

»War der Mann etwa ein Zauberer?«, wollte Sofie wissen.
»Nein.«, antwortete Papa. »Er war ein ganz normaler Mann. Aber durch den Fund seines Wanderstabs wurde er zu einem sehr berühmten Zauberer.«
»Das war eine sehr schöne Geschichte.«, sagte Sofie.
Papa war zufrieden als er das hörte. Doch dann fiel seiner Tochter noch etwas ein.
»Aber ich glaube dir trotzdem kein einziges Wort davon.«
Grinsend nahm sie Papa an der Hand. Sie setzten ihren Weg durch den Wald fort.
Augenblicke später ertönte hinter ihnen ein gefährliches Quieken. Noch bevor sich Papa und Sofie umdrehen konnten, raste ein großes Wildschwein an ihnen vorbei und verschwand im nächsten Busch.

(c) 2020, Marco Wittler

(c) Rita Ostendorf (aus der We ❤️ Sauerland Gruppe bei Facebook)
Vielen Dank, dass ich dieses wundervolle Foto als Inspiration und Illustration für meine Geschichte nutzen darf.

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