811. Der kleine Eisbär Emil

Der kleine Eisbär Emil saß am Ufer auf einem großen Eisfeld, sah hinaus auf das Meer und langweilte sich.
Den ganzen Tag musste er hier verbringen und warten, während seine Mutter im Eismeer unterwegs war, um Futter zu suchen.
»Oh man, ist das langweilig hier.«, beschwerte sich Emil immer wieder, während die stunden qualvoll langsam vergingen.
»Viel lieber würde ich auch aufs Meer hinaus schwimmen, um was von der Welt zu sehen, etwas zu erleben. So ein richtig spannendes Abenteuer, das wäre was.«
Er erinnerte sich an eine Geschichte, die er mal gehört hatte. Darin war es um wilde Piraten und riesige Wale gegangen.
»Aber ich sitze hier nur den ganzen Tag allein herum und langweile mich.«
Es war bereits Abend geworden, als Emils Mutter wieder aus dem Meer auftauchte und etwas zu Futtern ans Ufer schleppte.
»Tut mir leid, dass ich erst so spät wieder da bin, mein Kleiner. Ich musste sehr weit schwimmen, um etwas Essbaren zu finden. Aber jetzt kannst du dich endlich satt fressen.«
Emil schüttelte beleidigt den Kopf und schob das Futter von sich fort.
»Ich habe keinen Hunger. Mich interessiert das nicht. Ich habe mich hier den ganzen Tag gelangweilt, während du da draußen unterwegs warst und tolle Sachen erlebt hast.«
Mutter Eisbär ließ Kopf und Schultern hängen. »Tut mir leid. Aber es ist nicht mehr so einfach, futter zu finden. Es wird von Jahr zu Jahr wärmer, das große Eis immer kleiner. Das Futter verschwindet. Ich schwimme den ganzen Tag viele Kilometer, um uns nicht verhungern zu lassen.«
Aber auch diese Erklärung wollte Emil nicht hören. Er stand von seinem Platz auf und trat nahe an das Ufer heran.
»Ich haue ab. Ich will jetzt auch was von der Welt sehen und Abenteuer erleben.«
Noch während er diese Worte sprach, knackte es unter seinen Tatzen. Vom Packeis brach ein Stück ab und wurde sofort von der Meeresströmung fort gezogen.
»Emil! Spring schnell rüber zu mir!«, rief Mama Eisbär. Doch da war es schon zu spät. Ihr kleiner Sohn entfernte sich sehr schnell von ihr.
Sie sprang ihm nach, war aber zu müde, um die Eisscholle einzuholen.
»Schwimm mir entgegen. Bitte!«
Aber Emil hörte nicht. Er drehte seinen Blick zum Meer hin und freute sich schon auf sein erstes Abenteuer.

Die Zeit verging und mit der Zeit kam der Hunger. Auch war es im weiten Eismeer nicht so spannend, wie es sich Emil vorgestellt hatte. Während sein Magen nun schon seit Stunden knurrte, hatte er weder neues Land entdeckt, noch war er Piraten oder anderen Tieren begegnet. Er war einsam und allein.
»Ach, hätte ich doch bloß auf Mama gehört, dann wäre das alles nicht passiert. Dann würde ich jetzt pappsatt in unserer warmen Höhle unter dem Schnee liegen und schlafen. Stattdessen sitze ich hier auf dieser kleinen Eisscholle und bekomme langsam kalte Füße.«
In diesem Moment wurde seine Scholle von unten angestupst.
»Hilfe!«, rief Emil und krallte sich im Eis fest.
»Was ist los? Hat es dich von Zuhause fort getrieben?«, hörte er eine Stimme.
Emil drehte sich um und sah in die großen Augen eines Orcas, einem Wal.
»Ja.«, begann Emil sich zu erklären. »Ich war böse zu meiner Mama und dumm. Deswegen sitze ich jetzt hier fest.«
Der Wal lächelte.
»Ist kein Problem, mein kleiner Freund. Ich bringe dich zurück nach Hause.«
Dann schob er die Eisscholle vor sich her, bis sie das rettende Ufer wieder erreicht hatten.
Emil sprang vor Freude mit einem großen Satz hinüber und lief in die offenen Arme seiner Mutter.
»Ich laufe nie wieder weg. Versprochen!«
Dann bedankte er sich bei seinem Helfer und hörte von nun an auf die weisen Ratschläge der großen Eisbärin.

(c) 2020, Marco Wittler

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